Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.langen, ihn vor ihrem Ende noch einmal zu sehen, obwohl sie seinen Namen in ihren Fieberträumen oft genug nannte. Ja er war fast das letzte Wort, das von ihren Lippen kam, als sie in einer stürmischen Aprilnacht nach schwerem Kampfe verschied. Ihrem Kinde graute, mit der Todten die einsame Wohnung zu theilen. Sie drückte ihr die Augen zu, betete ein paar Vaterunser und den englischen Gruß und schlich dann hinaus mit klopfendem Herzen in die gewitternde Frühlingsnacht. Da stand sie droben und sah in das weite Etschthal hinaus, wo über den hochgehenden Strömen das wetterleuchtende Nachtgewölk hinjagte, und fühlte sich so armselig und allein, daß sie in bitterliches Weinen ausbrach. Ein heftiger Zorn auf Andree überkam sie. Er konnte jetzt wohlgeborgen in seiner Klosterzelle sitzen und die hülflose Schwester, die Niemand in der Welt lieber hatte, als ihn, unter allen Schrecken und Nöthen ihres jungen Lebens allein lassen! -- Der Regen rauschte stärker herab, und der Wind strich kalt um die freien Berglehnen. Zitternd tappte das verwais'te Mädchen an den Wänden entlang bis in den Schuppen, wo Andree als Knabe sein Lager gehabt hatte. Da in der Finsterniß legte sie sich auf dieselbe Stelle, und wie sie daran dachte, mußte sie heftiger weinen und schlief endlich schluchzend, hungrig und in abergläubischem Grauen vor der Nähe der todten Mutter auf dem Maisstrohlager ein. Aber sie verschlief mit dem Leichtsinn ihrer achtzehn langen, ihn vor ihrem Ende noch einmal zu sehen, obwohl sie seinen Namen in ihren Fieberträumen oft genug nannte. Ja er war fast das letzte Wort, das von ihren Lippen kam, als sie in einer stürmischen Aprilnacht nach schwerem Kampfe verschied. Ihrem Kinde graute, mit der Todten die einsame Wohnung zu theilen. Sie drückte ihr die Augen zu, betete ein paar Vaterunser und den englischen Gruß und schlich dann hinaus mit klopfendem Herzen in die gewitternde Frühlingsnacht. Da stand sie droben und sah in das weite Etschthal hinaus, wo über den hochgehenden Strömen das wetterleuchtende Nachtgewölk hinjagte, und fühlte sich so armselig und allein, daß sie in bitterliches Weinen ausbrach. Ein heftiger Zorn auf Andree überkam sie. Er konnte jetzt wohlgeborgen in seiner Klosterzelle sitzen und die hülflose Schwester, die Niemand in der Welt lieber hatte, als ihn, unter allen Schrecken und Nöthen ihres jungen Lebens allein lassen! — Der Regen rauschte stärker herab, und der Wind strich kalt um die freien Berglehnen. Zitternd tappte das verwais'te Mädchen an den Wänden entlang bis in den Schuppen, wo Andree als Knabe sein Lager gehabt hatte. Da in der Finsterniß legte sie sich auf dieselbe Stelle, und wie sie daran dachte, mußte sie heftiger weinen und schlief endlich schluchzend, hungrig und in abergläubischem Grauen vor der Nähe der todten Mutter auf dem Maisstrohlager ein. Aber sie verschlief mit dem Leichtsinn ihrer achtzehn <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0086"/> langen, ihn vor ihrem Ende noch einmal zu sehen, obwohl sie seinen Namen in ihren Fieberträumen oft genug nannte. Ja er war fast das letzte Wort, das von ihren Lippen kam, als sie in einer stürmischen Aprilnacht nach schwerem Kampfe verschied.</p><lb/> <p>Ihrem Kinde graute, mit der Todten die einsame Wohnung zu theilen. Sie drückte ihr die Augen zu, betete ein paar Vaterunser und den englischen Gruß und schlich dann hinaus mit klopfendem Herzen in die gewitternde Frühlingsnacht. Da stand sie droben und sah in das weite Etschthal hinaus, wo über den hochgehenden Strömen das wetterleuchtende Nachtgewölk hinjagte, und fühlte sich so armselig und allein, daß sie in bitterliches Weinen ausbrach. Ein heftiger Zorn auf Andree überkam sie. Er konnte jetzt wohlgeborgen in seiner Klosterzelle sitzen und die hülflose Schwester, die Niemand in der Welt lieber hatte, als ihn, unter allen Schrecken und Nöthen ihres jungen Lebens allein lassen! — Der Regen rauschte stärker herab, und der Wind strich kalt um die freien Berglehnen. Zitternd tappte das verwais'te Mädchen an den Wänden entlang bis in den Schuppen, wo Andree als Knabe sein Lager gehabt hatte. Da in der Finsterniß legte sie sich auf dieselbe Stelle, und wie sie daran dachte, mußte sie heftiger weinen und schlief endlich schluchzend, hungrig und in abergläubischem Grauen vor der Nähe der todten Mutter auf dem Maisstrohlager ein.</p><lb/> <p>Aber sie verschlief mit dem Leichtsinn ihrer achtzehn<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0086]
langen, ihn vor ihrem Ende noch einmal zu sehen, obwohl sie seinen Namen in ihren Fieberträumen oft genug nannte. Ja er war fast das letzte Wort, das von ihren Lippen kam, als sie in einer stürmischen Aprilnacht nach schwerem Kampfe verschied.
Ihrem Kinde graute, mit der Todten die einsame Wohnung zu theilen. Sie drückte ihr die Augen zu, betete ein paar Vaterunser und den englischen Gruß und schlich dann hinaus mit klopfendem Herzen in die gewitternde Frühlingsnacht. Da stand sie droben und sah in das weite Etschthal hinaus, wo über den hochgehenden Strömen das wetterleuchtende Nachtgewölk hinjagte, und fühlte sich so armselig und allein, daß sie in bitterliches Weinen ausbrach. Ein heftiger Zorn auf Andree überkam sie. Er konnte jetzt wohlgeborgen in seiner Klosterzelle sitzen und die hülflose Schwester, die Niemand in der Welt lieber hatte, als ihn, unter allen Schrecken und Nöthen ihres jungen Lebens allein lassen! — Der Regen rauschte stärker herab, und der Wind strich kalt um die freien Berglehnen. Zitternd tappte das verwais'te Mädchen an den Wänden entlang bis in den Schuppen, wo Andree als Knabe sein Lager gehabt hatte. Da in der Finsterniß legte sie sich auf dieselbe Stelle, und wie sie daran dachte, mußte sie heftiger weinen und schlief endlich schluchzend, hungrig und in abergläubischem Grauen vor der Nähe der todten Mutter auf dem Maisstrohlager ein.
Aber sie verschlief mit dem Leichtsinn ihrer achtzehn
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/86>, abgerufen am 16.02.2025. |