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Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Ueber diese Zeitung schüttelte der kleine Hülfspriester nachdenklich den Kopf, die Tante Anna schloß sich einen ganzen Tag in ihre Kammer ein, um ungestört unter Fasten und Gebet das Seelenheil ihres Pathenkindes dem Himmel zu empfehlen, Rosine ging mit gerötheten Augen und abwesenden Gedanken im Hause herum, selbst die Mutter, die schwarze Moidi, verrieth, daß sie eine menschliche Regung fühlte und sich im Stillen, über ihre Härte und Bosheit gegen den armen Ausgestoßenen anklagte. Nur die Schwester selbst, die doch am meisten an ihm verlor, schien am wenigsten um sein Schicksal bekümmert zu sein. Sie behauptete, es sei ihr zum Todtlachen, wenn sie sich den Andree in der Kutte mit geschorener Platte vorstellen solle. Auch könne sie 's nicht glauben, daß er wirklich im Kloster hause. Er habe gar keine geistliche Gemüthsart, und das Alles sei nur ausgedacht, um dem Militärgericht Sand in die Augen zu streuen. Er werde droben im Vintschgau sitzen, Gemsen schießen und neuen Wein trinken, und eines schönen Tags wieder zum Vorschein kommen, ohne langen Kapuzinerbart und so weltlich, als er gegangen sei.

Der Weihnachtsbrief des Priors machte sie zuerst stutzig. Drei Tage lang ging sie herum, ohne zu lachen, und setzte sich endlich hin, dem Bruder einen Brief zu schreiben, der voller Possen war, aber zum Schluß die ernsthafte Mahnung enthielt, bald wiederzukommen, da sie es "sehr nothwendig nach ihm habe". Sie zeigte

Ueber diese Zeitung schüttelte der kleine Hülfspriester nachdenklich den Kopf, die Tante Anna schloß sich einen ganzen Tag in ihre Kammer ein, um ungestört unter Fasten und Gebet das Seelenheil ihres Pathenkindes dem Himmel zu empfehlen, Rosine ging mit gerötheten Augen und abwesenden Gedanken im Hause herum, selbst die Mutter, die schwarze Moidi, verrieth, daß sie eine menschliche Regung fühlte und sich im Stillen, über ihre Härte und Bosheit gegen den armen Ausgestoßenen anklagte. Nur die Schwester selbst, die doch am meisten an ihm verlor, schien am wenigsten um sein Schicksal bekümmert zu sein. Sie behauptete, es sei ihr zum Todtlachen, wenn sie sich den Andree in der Kutte mit geschorener Platte vorstellen solle. Auch könne sie 's nicht glauben, daß er wirklich im Kloster hause. Er habe gar keine geistliche Gemüthsart, und das Alles sei nur ausgedacht, um dem Militärgericht Sand in die Augen zu streuen. Er werde droben im Vintschgau sitzen, Gemsen schießen und neuen Wein trinken, und eines schönen Tags wieder zum Vorschein kommen, ohne langen Kapuzinerbart und so weltlich, als er gegangen sei.

Der Weihnachtsbrief des Priors machte sie zuerst stutzig. Drei Tage lang ging sie herum, ohne zu lachen, und setzte sich endlich hin, dem Bruder einen Brief zu schreiben, der voller Possen war, aber zum Schluß die ernsthafte Mahnung enthielt, bald wiederzukommen, da sie es „sehr nothwendig nach ihm habe“. Sie zeigte

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T11:27:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T11:27:07Z)

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/83>, abgerufen am 12.05.2024.