Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.an. Wie lange hab' ich geschlafen? sagte sie verwundert. Wie kam es denn, daß ich mich hier niedergelegt hab'? Es war heiß, sagte er. Nun aber geh nach Haus, Moidi. Ich muß drüben nachschauen, ob Alles in Ordnung ist. Sie stand auf und gab ihm die Hand. Gute Nacht, Andree, sagte sie hastig, denn eine Erinnerung an das Vorgefallene stieg dunkel in ihr auf. Uebermorgen ist Sonntag. Du kommst doch in die Kirche? Nein, Moidi. Du weißt ja, daß ich auf dem Posten bleiben muß, so lang ich den Saltner mache. Es ist wahr, erwiderte sie nachdenklich. Ich komm' aber schon wieder zu dir. Gute Nacht! Er kämpfte mit sich, ob er sie bitten solle, nicht mehr zu kommen. Aber ehe er sich entschließen konnte, war sie schon auf und davon. Am Ausgang der Laube stand er und sah ihr nach, wie sie behende das steile Treppchen hinanstieg. Der lange hundertfältige Rock bewegte sich zierlich um ihre Knöchel, bei jedem Schritt wie ein Fächer die Falten öffnend und wieder zusammenschlagend. Von oben winkte sie noch einmal zurück mit der Hand. Er grüßte nicht hinauf; das Geländer zitterte, an dem er angelehnt stand, und ein Seufzer, den er lange verhalten hatte, befreite ihm doch nicht seine beklommene Brust. In diesem Augenblick hörte er einen raschen Männerschritt von unten heraufkommen und erkannte an. Wie lange hab' ich geschlafen? sagte sie verwundert. Wie kam es denn, daß ich mich hier niedergelegt hab'? Es war heiß, sagte er. Nun aber geh nach Haus, Moidi. Ich muß drüben nachschauen, ob Alles in Ordnung ist. Sie stand auf und gab ihm die Hand. Gute Nacht, Andree, sagte sie hastig, denn eine Erinnerung an das Vorgefallene stieg dunkel in ihr auf. Uebermorgen ist Sonntag. Du kommst doch in die Kirche? Nein, Moidi. Du weißt ja, daß ich auf dem Posten bleiben muß, so lang ich den Saltner mache. Es ist wahr, erwiderte sie nachdenklich. Ich komm' aber schon wieder zu dir. Gute Nacht! Er kämpfte mit sich, ob er sie bitten solle, nicht mehr zu kommen. Aber ehe er sich entschließen konnte, war sie schon auf und davon. Am Ausgang der Laube stand er und sah ihr nach, wie sie behende das steile Treppchen hinanstieg. Der lange hundertfältige Rock bewegte sich zierlich um ihre Knöchel, bei jedem Schritt wie ein Fächer die Falten öffnend und wieder zusammenschlagend. Von oben winkte sie noch einmal zurück mit der Hand. Er grüßte nicht hinauf; das Geländer zitterte, an dem er angelehnt stand, und ein Seufzer, den er lange verhalten hatte, befreite ihm doch nicht seine beklommene Brust. In diesem Augenblick hörte er einen raschen Männerschritt von unten heraufkommen und erkannte <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0055"/> an. Wie lange hab' ich geschlafen? sagte sie verwundert. Wie kam es denn, daß ich mich hier niedergelegt hab'?</p><lb/> <p>Es war heiß, sagte er. Nun aber geh nach Haus, Moidi. Ich muß drüben nachschauen, ob Alles in Ordnung ist.</p><lb/> <p>Sie stand auf und gab ihm die Hand. Gute Nacht, Andree, sagte sie hastig, denn eine Erinnerung an das Vorgefallene stieg dunkel in ihr auf. Uebermorgen ist Sonntag. Du kommst doch in die Kirche?</p><lb/> <p>Nein, Moidi. Du weißt ja, daß ich auf dem Posten bleiben muß, so lang ich den Saltner mache.</p><lb/> <p>Es ist wahr, erwiderte sie nachdenklich. Ich komm' aber schon wieder zu dir. Gute Nacht!</p><lb/> <p>Er kämpfte mit sich, ob er sie bitten solle, nicht mehr zu kommen. Aber ehe er sich entschließen konnte, war sie schon auf und davon. Am Ausgang der Laube stand er und sah ihr nach, wie sie behende das steile Treppchen hinanstieg. Der lange hundertfältige Rock bewegte sich zierlich um ihre Knöchel, bei jedem Schritt wie ein Fächer die Falten öffnend und wieder zusammenschlagend. Von oben winkte sie noch einmal zurück mit der Hand. Er grüßte nicht hinauf; das Geländer zitterte, an dem er angelehnt stand, und ein Seufzer, den er lange verhalten hatte, befreite ihm doch nicht seine beklommene Brust.</p><lb/> <p>In diesem Augenblick hörte er einen raschen Männerschritt von unten heraufkommen und erkannte<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0055]
an. Wie lange hab' ich geschlafen? sagte sie verwundert. Wie kam es denn, daß ich mich hier niedergelegt hab'?
Es war heiß, sagte er. Nun aber geh nach Haus, Moidi. Ich muß drüben nachschauen, ob Alles in Ordnung ist.
Sie stand auf und gab ihm die Hand. Gute Nacht, Andree, sagte sie hastig, denn eine Erinnerung an das Vorgefallene stieg dunkel in ihr auf. Uebermorgen ist Sonntag. Du kommst doch in die Kirche?
Nein, Moidi. Du weißt ja, daß ich auf dem Posten bleiben muß, so lang ich den Saltner mache.
Es ist wahr, erwiderte sie nachdenklich. Ich komm' aber schon wieder zu dir. Gute Nacht!
Er kämpfte mit sich, ob er sie bitten solle, nicht mehr zu kommen. Aber ehe er sich entschließen konnte, war sie schon auf und davon. Am Ausgang der Laube stand er und sah ihr nach, wie sie behende das steile Treppchen hinanstieg. Der lange hundertfältige Rock bewegte sich zierlich um ihre Knöchel, bei jedem Schritt wie ein Fächer die Falten öffnend und wieder zusammenschlagend. Von oben winkte sie noch einmal zurück mit der Hand. Er grüßte nicht hinauf; das Geländer zitterte, an dem er angelehnt stand, und ein Seufzer, den er lange verhalten hatte, befreite ihm doch nicht seine beklommene Brust.
In diesem Augenblick hörte er einen raschen Männerschritt von unten heraufkommen und erkannte
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/55>, abgerufen am 16.02.2025. |