Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.wagte. Sie schien das Dasein des Knaben völlig verläugnen zu wollen, um sich einzig dem Mädchen zu widmen. Für diese war sie unermüdlich, Aerzte und Kräuterweiber zu Rath zu ziehen, Wallfahrten zu machen, Messen lesen zu lassen und durch die schrankenloseste Nachgiebigkeit ihr womöglich jeden Anstoß aus dem Wege zu räumen. Der schwache und weichmüthige Vater ließ Alles geschehen. Es war ihm nicht wohl in seinem Hause. Aber die Stadt lag ja so nahe zu seinen Füßen, daß er die grünen Büsche vor den Schenkenthüren bis herauf winken sah. So heiligte er gewissenhaft die zahlreichen Bauernfeiertage, von denen der Tirolische Kalender über und über roth wird, und erzählte Jedem, der es hören wollte, mit ahnenstolzer Gemüthsruhe, daß drei aus seiner Familie in den letzten fünfzig Jahren am Delirium gestorben seien, was nicht die schlimmste Todesart sei. Seinem Weibe war er längst gleichgültig. Sie liebte Niemand auf der Welt, als das blonde Kind. Auch wurde sie dem Verkehr mit Nachbarn und Verwandten mehr und mehr entfremdet, da ihre unnatürlichen Schrullen den Leuten vollends ein Grauen erweckten. Das Haus lag einsam auf dem nackten Felsgrunde, ganz abseits von der Straße, die sich um den Küchelberg hinauf nach Dorf Tirol windet. Niemand sprach im Vorübergehen an; zu Niemand ging wagte. Sie schien das Dasein des Knaben völlig verläugnen zu wollen, um sich einzig dem Mädchen zu widmen. Für diese war sie unermüdlich, Aerzte und Kräuterweiber zu Rath zu ziehen, Wallfahrten zu machen, Messen lesen zu lassen und durch die schrankenloseste Nachgiebigkeit ihr womöglich jeden Anstoß aus dem Wege zu räumen. Der schwache und weichmüthige Vater ließ Alles geschehen. Es war ihm nicht wohl in seinem Hause. Aber die Stadt lag ja so nahe zu seinen Füßen, daß er die grünen Büsche vor den Schenkenthüren bis herauf winken sah. So heiligte er gewissenhaft die zahlreichen Bauernfeiertage, von denen der Tirolische Kalender über und über roth wird, und erzählte Jedem, der es hören wollte, mit ahnenstolzer Gemüthsruhe, daß drei aus seiner Familie in den letzten fünfzig Jahren am Delirium gestorben seien, was nicht die schlimmste Todesart sei. Seinem Weibe war er längst gleichgültig. Sie liebte Niemand auf der Welt, als das blonde Kind. Auch wurde sie dem Verkehr mit Nachbarn und Verwandten mehr und mehr entfremdet, da ihre unnatürlichen Schrullen den Leuten vollends ein Grauen erweckten. Das Haus lag einsam auf dem nackten Felsgrunde, ganz abseits von der Straße, die sich um den Küchelberg hinauf nach Dorf Tirol windet. Niemand sprach im Vorübergehen an; zu Niemand ging <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0044"/> wagte. Sie schien das Dasein des Knaben völlig verläugnen zu wollen, um sich einzig dem Mädchen zu widmen. Für diese war sie unermüdlich, Aerzte und Kräuterweiber zu Rath zu ziehen, Wallfahrten zu machen, Messen lesen zu lassen und durch die schrankenloseste Nachgiebigkeit ihr womöglich jeden Anstoß aus dem Wege zu räumen. Der schwache und weichmüthige Vater ließ Alles geschehen. Es war ihm nicht wohl in seinem Hause. Aber die Stadt lag ja so nahe zu seinen Füßen, daß er die grünen Büsche vor den Schenkenthüren bis herauf winken sah. So heiligte er gewissenhaft die zahlreichen Bauernfeiertage, von denen der Tirolische Kalender über und über roth wird, und erzählte Jedem, der es hören wollte, mit ahnenstolzer Gemüthsruhe, daß drei aus seiner Familie in den letzten fünfzig Jahren am Delirium gestorben seien, was nicht die schlimmste Todesart sei.</p><lb/> <p>Seinem Weibe war er längst gleichgültig. Sie liebte Niemand auf der Welt, als das blonde Kind. Auch wurde sie dem Verkehr mit Nachbarn und Verwandten mehr und mehr entfremdet, da ihre unnatürlichen Schrullen den Leuten vollends ein Grauen erweckten. Das Haus lag einsam auf dem nackten Felsgrunde, ganz abseits von der Straße, die sich um den Küchelberg hinauf nach Dorf Tirol windet. Niemand sprach im Vorübergehen an; zu Niemand ging<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0044]
wagte. Sie schien das Dasein des Knaben völlig verläugnen zu wollen, um sich einzig dem Mädchen zu widmen. Für diese war sie unermüdlich, Aerzte und Kräuterweiber zu Rath zu ziehen, Wallfahrten zu machen, Messen lesen zu lassen und durch die schrankenloseste Nachgiebigkeit ihr womöglich jeden Anstoß aus dem Wege zu räumen. Der schwache und weichmüthige Vater ließ Alles geschehen. Es war ihm nicht wohl in seinem Hause. Aber die Stadt lag ja so nahe zu seinen Füßen, daß er die grünen Büsche vor den Schenkenthüren bis herauf winken sah. So heiligte er gewissenhaft die zahlreichen Bauernfeiertage, von denen der Tirolische Kalender über und über roth wird, und erzählte Jedem, der es hören wollte, mit ahnenstolzer Gemüthsruhe, daß drei aus seiner Familie in den letzten fünfzig Jahren am Delirium gestorben seien, was nicht die schlimmste Todesart sei.
Seinem Weibe war er längst gleichgültig. Sie liebte Niemand auf der Welt, als das blonde Kind. Auch wurde sie dem Verkehr mit Nachbarn und Verwandten mehr und mehr entfremdet, da ihre unnatürlichen Schrullen den Leuten vollends ein Grauen erweckten. Das Haus lag einsam auf dem nackten Felsgrunde, ganz abseits von der Straße, die sich um den Küchelberg hinauf nach Dorf Tirol windet. Niemand sprach im Vorübergehen an; zu Niemand ging
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/44>, abgerufen am 16.07.2024. |