Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

"Ich nicht, Clemens. Warum sollt' ich seufzen?
Ich schrak nur zusammen, wie der Wind auf einmal
so heftig hereinfuhr."

"Du hast doch geseufzt. Meinst du, ich hörte es
nicht, wenn ich spiele? Und ich fühl' es auch bis
hieher, wie du zitterst."

"Ja, es ist kalt geworden."

"Du betrügst mich nicht. Wenn dir kalt wäre,
stündest du nicht am Fenster. Ich weiß aber, warum
du seufzest und zitterst. Weil der Arzt morgen kommt
und uns mit Nadeln in die Augen stechen will, dar¬
um fürchtest du dich. Und er hat doch gesagt, wie
bald Alles geschehen sei, und daß es nur thue wie
ein Mückenstich. Warst du nicht sonst tapfer und ge¬
duldig, und wenn ich als Kind schrie, so oft mir was
weh that, hat dich meine Mutter mir nicht immer
zum Muster aufgestellt, obwohl du nur ein Mädchen
bist? Und nun weißt du dich nicht auf deinen Muth
zu besinnen, und denkst gar nicht an das Glück, das
wir hernach zu hoffen haben?"

Sie schüttelte das Köpfchen und erwiederte: "Wie
du nur denken kannst, ich fürchtete mich vor dem kur¬
zen Schmerz. Aber beklommen bin ich von dummen,
kindischen Gedanken, aus denen ich mich nicht heraus¬
finde. -- Seit dem Tage schon, wo der fremde Arzt,
den der Herr Baron hat kommen lassen, vom Schloß
herunter zu deinem Vater kam, und die Mutter uns

„Ich nicht, Clemens. Warum ſollt' ich ſeufzen?
Ich ſchrak nur zuſammen, wie der Wind auf einmal
ſo heftig hereinfuhr.“

„Du haſt doch geſeufzt. Meinſt du, ich hörte es
nicht, wenn ich ſpiele? Und ich fühl' es auch bis
hieher, wie du zitterſt.“

„Ja, es iſt kalt geworden.“

„Du betrügſt mich nicht. Wenn dir kalt wäre,
ſtündeſt du nicht am Fenſter. Ich weiß aber, warum
du ſeufzeſt und zitterſt. Weil der Arzt morgen kommt
und uns mit Nadeln in die Augen ſtechen will, dar¬
um fürchteſt du dich. Und er hat doch geſagt, wie
bald Alles geſchehen ſei, und daß es nur thue wie
ein Mückenſtich. Warſt du nicht ſonſt tapfer und ge¬
duldig, und wenn ich als Kind ſchrie, ſo oft mir was
weh that, hat dich meine Mutter mir nicht immer
zum Muſter aufgeſtellt, obwohl du nur ein Mädchen
biſt? Und nun weißt du dich nicht auf deinen Muth
zu beſinnen, und denkſt gar nicht an das Glück, das
wir hernach zu hoffen haben?“

Sie ſchüttelte das Köpfchen und erwiederte: „Wie
du nur denken kannſt, ich fürchtete mich vor dem kur¬
zen Schmerz. Aber beklommen bin ich von dummen,
kindiſchen Gedanken, aus denen ich mich nicht heraus¬
finde. — Seit dem Tage ſchon, wo der fremde Arzt,
den der Herr Baron hat kommen laſſen, vom Schloß
herunter zu deinem Vater kam, und die Mutter uns

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0016" n="4"/>
          <p>&#x201E;Ich nicht, Clemens. Warum &#x017F;ollt' ich &#x017F;eufzen?<lb/>
Ich &#x017F;chrak nur zu&#x017F;ammen, wie der Wind auf einmal<lb/>
&#x017F;o heftig hereinfuhr.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Du ha&#x017F;t doch ge&#x017F;eufzt. Mein&#x017F;t du, ich hörte es<lb/>
nicht, wenn ich &#x017F;piele? Und ich fühl' es auch bis<lb/>
hieher, wie du zitter&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ja, es i&#x017F;t kalt geworden.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Du betrüg&#x017F;t mich nicht. Wenn dir kalt wäre,<lb/>
&#x017F;tünde&#x017F;t du nicht am Fen&#x017F;ter. Ich weiß aber, warum<lb/>
du &#x017F;eufze&#x017F;t und zitter&#x017F;t. Weil der Arzt morgen kommt<lb/>
und uns mit Nadeln in die Augen &#x017F;techen will, dar¬<lb/>
um fürchte&#x017F;t du dich. Und er hat doch ge&#x017F;agt, wie<lb/>
bald Alles ge&#x017F;chehen &#x017F;ei, und daß es nur thue wie<lb/>
ein Mücken&#x017F;tich. War&#x017F;t du nicht &#x017F;on&#x017F;t tapfer und ge¬<lb/>
duldig, und wenn ich als Kind &#x017F;chrie, &#x017F;o oft mir was<lb/>
weh that, hat dich meine Mutter mir nicht immer<lb/>
zum Mu&#x017F;ter aufge&#x017F;tellt, obwohl du nur ein Mädchen<lb/>
bi&#x017F;t? Und nun weißt du dich nicht auf deinen Muth<lb/>
zu be&#x017F;innen, und denk&#x017F;t gar nicht an das Glück, das<lb/>
wir hernach zu hoffen haben?&#x201C;</p><lb/>
          <p>Sie &#x017F;chüttelte das Köpfchen und erwiederte: &#x201E;Wie<lb/>
du nur denken kann&#x017F;t, ich fürchtete mich vor dem kur¬<lb/>
zen Schmerz. Aber beklommen bin ich von dummen,<lb/>
kindi&#x017F;chen Gedanken, aus denen ich mich nicht heraus¬<lb/>
finde. &#x2014; Seit dem Tage &#x017F;chon, wo der fremde Arzt,<lb/>
den der Herr Baron hat kommen la&#x017F;&#x017F;en, vom Schloß<lb/>
herunter zu deinem Vater kam, und die Mutter uns<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0016] „Ich nicht, Clemens. Warum ſollt' ich ſeufzen? Ich ſchrak nur zuſammen, wie der Wind auf einmal ſo heftig hereinfuhr.“ „Du haſt doch geſeufzt. Meinſt du, ich hörte es nicht, wenn ich ſpiele? Und ich fühl' es auch bis hieher, wie du zitterſt.“ „Ja, es iſt kalt geworden.“ „Du betrügſt mich nicht. Wenn dir kalt wäre, ſtündeſt du nicht am Fenſter. Ich weiß aber, warum du ſeufzeſt und zitterſt. Weil der Arzt morgen kommt und uns mit Nadeln in die Augen ſtechen will, dar¬ um fürchteſt du dich. Und er hat doch geſagt, wie bald Alles geſchehen ſei, und daß es nur thue wie ein Mückenſtich. Warſt du nicht ſonſt tapfer und ge¬ duldig, und wenn ich als Kind ſchrie, ſo oft mir was weh that, hat dich meine Mutter mir nicht immer zum Muſter aufgeſtellt, obwohl du nur ein Mädchen biſt? Und nun weißt du dich nicht auf deinen Muth zu beſinnen, und denkſt gar nicht an das Glück, das wir hernach zu hoffen haben?“ Sie ſchüttelte das Köpfchen und erwiederte: „Wie du nur denken kannſt, ich fürchtete mich vor dem kur¬ zen Schmerz. Aber beklommen bin ich von dummen, kindiſchen Gedanken, aus denen ich mich nicht heraus¬ finde. — Seit dem Tage ſchon, wo der fremde Arzt, den der Herr Baron hat kommen laſſen, vom Schloß herunter zu deinem Vater kam, und die Mutter uns

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/16
Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/16>, abgerufen am 21.11.2024.