ten die weißen Zähne vor. Als Theodor den Mantel lüftete, um das Eis aufzulegen, sah er die ganze Kraft der Glieder.
Er schickte den Burschen fort, nachdem er ihn Vorrath von Holz und Eis hatte zutragen lassen und befahl ihm, in der Frühe wiederzukommen. Er selbst schob einen Rohrstuhl an den Kamin und ließ sich nieder, den Mantel umgeschlagen, und bereitete sich zu wachen. Es war nun um die zehnte Stunde; draußen über dem öden Platz stand die klare Nacht und der Strahl des Springbrunns plätscherte leise in die Muschel des Tritonen. Aus einem nahen Hause hörte er eine Mädchenstimme singen:
Chi sa se mai Ti soverrai di me!
den Refrain eines alten schmerzlichen Liedes. Bald schwieg auch das und summte wortlos in ihm nach.
Er sah sich wieder am Rande der Schlucht von Tivoli, auf dem Fußweg den Wassern gegenüber, die in winterlicher Dürftigkeit aus ihren vielen Mündun¬ gen niederstürzten. Sie gingen, ohne sich zu führen, neben einander, er, das schöne Mädchen und ihre be¬ wegliche kleine Begleiterin, die unablässig über den mühevollen abschüssigen Weg eiferte. Wir hätten mit Euern Eltern zurückgehn sollen, Mary, sagte sie mehr als einmal auf Englisch; ja, wir sollten es noch. Da sind sie noch, Kind, droben über der Cascade, seht
ten die weißen Zähne vor. Als Theodor den Mantel lüftete, um das Eis aufzulegen, ſah er die ganze Kraft der Glieder.
Er ſchickte den Burſchen fort, nachdem er ihn Vorrath von Holz und Eis hatte zutragen laſſen und befahl ihm, in der Frühe wiederzukommen. Er ſelbſt ſchob einen Rohrſtuhl an den Kamin und ließ ſich nieder, den Mantel umgeſchlagen, und bereitete ſich zu wachen. Es war nun um die zehnte Stunde; draußen über dem öden Platz ſtand die klare Nacht und der Strahl des Springbrunns plätſcherte leiſe in die Muſchel des Tritonen. Aus einem nahen Hauſe hörte er eine Mädchenſtimme ſingen:
Chi sa se mai Ti soverrai di me!
den Refrain eines alten ſchmerzlichen Liedes. Bald ſchwieg auch das und ſummte wortlos in ihm nach.
Er ſah ſich wieder am Rande der Schlucht von Tivoli, auf dem Fußweg den Waſſern gegenüber, die in winterlicher Dürftigkeit aus ihren vielen Mündun¬ gen niederſtürzten. Sie gingen, ohne ſich zu führen, neben einander, er, das ſchöne Mädchen und ihre be¬ wegliche kleine Begleiterin, die unabläſſig über den mühevollen abſchüſſigen Weg eiferte. Wir hätten mit Euern Eltern zurückgehn ſollen, Mary, ſagte ſie mehr als einmal auf Engliſch; ja, wir ſollten es noch. Da ſind ſie noch, Kind, droben über der Cascade, ſeht
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0150"n="138"/>
ten die weißen Zähne vor. Als Theodor den Mantel<lb/>
lüftete, um das Eis aufzulegen, ſah er die ganze Kraft<lb/>
der Glieder.</p><lb/><p>Er ſchickte den Burſchen fort, nachdem er ihn<lb/>
Vorrath von Holz und Eis hatte zutragen laſſen und<lb/>
befahl ihm, in der Frühe wiederzukommen. Er ſelbſt<lb/>ſchob einen Rohrſtuhl an den Kamin und ließ ſich<lb/>
nieder, den Mantel umgeſchlagen, und bereitete ſich<lb/>
zu wachen. Es war nun um die zehnte Stunde;<lb/>
draußen über dem öden Platz ſtand die klare Nacht<lb/>
und der Strahl des Springbrunns plätſcherte leiſe<lb/>
in die Muſchel des Tritonen. Aus einem nahen<lb/>
Hauſe hörte er eine Mädchenſtimme ſingen:</p><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#aq">Chi sa se mai</hi></l><lb/><l><hirendition="#aq">Ti soverrai di me!</hi></l><lb/></lg><p>den Refrain eines alten ſchmerzlichen Liedes. Bald<lb/>ſchwieg auch das und ſummte wortlos in ihm nach.</p><lb/><p>Er ſah ſich wieder am Rande der Schlucht von<lb/>
Tivoli, auf dem Fußweg den Waſſern gegenüber, die<lb/>
in winterlicher Dürftigkeit aus ihren vielen Mündun¬<lb/>
gen niederſtürzten. Sie gingen, ohne ſich zu führen,<lb/>
neben einander, er, das ſchöne Mädchen und ihre be¬<lb/>
wegliche kleine Begleiterin, die unabläſſig über den<lb/>
mühevollen abſchüſſigen Weg eiferte. Wir hätten mit<lb/>
Euern Eltern zurückgehn ſollen, Mary, ſagte ſie mehr<lb/>
als einmal auf Engliſch; ja, wir ſollten es noch. Da<lb/>ſind ſie noch, Kind, droben über der Cascade, ſeht<lb/></p></div></body></text></TEI>
[138/0150]
ten die weißen Zähne vor. Als Theodor den Mantel
lüftete, um das Eis aufzulegen, ſah er die ganze Kraft
der Glieder.
Er ſchickte den Burſchen fort, nachdem er ihn
Vorrath von Holz und Eis hatte zutragen laſſen und
befahl ihm, in der Frühe wiederzukommen. Er ſelbſt
ſchob einen Rohrſtuhl an den Kamin und ließ ſich
nieder, den Mantel umgeſchlagen, und bereitete ſich
zu wachen. Es war nun um die zehnte Stunde;
draußen über dem öden Platz ſtand die klare Nacht
und der Strahl des Springbrunns plätſcherte leiſe
in die Muſchel des Tritonen. Aus einem nahen
Hauſe hörte er eine Mädchenſtimme ſingen:
Chi sa se mai
Ti soverrai di me!
den Refrain eines alten ſchmerzlichen Liedes. Bald
ſchwieg auch das und ſummte wortlos in ihm nach.
Er ſah ſich wieder am Rande der Schlucht von
Tivoli, auf dem Fußweg den Waſſern gegenüber, die
in winterlicher Dürftigkeit aus ihren vielen Mündun¬
gen niederſtürzten. Sie gingen, ohne ſich zu führen,
neben einander, er, das ſchöne Mädchen und ihre be¬
wegliche kleine Begleiterin, die unabläſſig über den
mühevollen abſchüſſigen Weg eiferte. Wir hätten mit
Euern Eltern zurückgehn ſollen, Mary, ſagte ſie mehr
als einmal auf Engliſch; ja, wir ſollten es noch. Da
ſind ſie noch, Kind, droben über der Cascade, ſeht
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/150>, abgerufen am 25.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.