Heyden, Friedrich von: Der graue John. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 13. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 177–231. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.der aufmerksamste Gatte für Betty, der liebenswürdigste Freund für seine wenigen Bekannten in der Nachbarschaft des Dorfes, ohne indessen an seiner bisherigen Lebensweise auch nur das Mindeste zu ändern. Man gewöhnte sich daran, und Niemand hatte etwas dagegen. Betty hatte ihn einst gefragt, ob er noch lange bei seiner geheimnißvollen Lebensweise bleiben werde? Gott sei Dank, nein, -- hatte er geantwortet, -- nur noch drei Monate, und dann werde ich dich niemals mehr verlassen, bis mich der Tod abruft. -- Die junge Frau, welche ohnedies noch kinderlos war, erfreute sich an dieser nahen Aussicht; jedoch, -- seltsame Beschaffenheit des menschlichen Gemüths! -- bald war diese anfangs so befriedigende Verheißung der Stachel zur Erregung einer peinlichen inneren Unruhe. -- Wenn er auf einmal seine bisherige räthselhafte Lebensweise aufgeben kann, welche Umstände bewogen ihn, so lange darin zu verharren und ihre zureichenden Gründe so ängstlich selbst vor den Blicken Derjenigen zu verschleiern, welche ihm die Nächsten sind? -- Einige Zeit trug sie diesen Gedanken mit sich herum, wurde stiller, und Williams bemerkte und errieth bei seiner nächsten Anwesenheit den Anlaß ihrer Verstimmung. -- Beruhige dich, und forsche nicht unberufen nach meinen Geheimnissen, äußerte er ernst. -- Es ist ein furchtbarer Drache, der bald seine ihm vom Schicksal bestimmte Frist ausgelebt haben wird, der aber bis zum letzten Augenblicke seines Daseins die Kraft hat, der aufmerksamste Gatte für Betty, der liebenswürdigste Freund für seine wenigen Bekannten in der Nachbarschaft des Dorfes, ohne indessen an seiner bisherigen Lebensweise auch nur das Mindeste zu ändern. Man gewöhnte sich daran, und Niemand hatte etwas dagegen. Betty hatte ihn einst gefragt, ob er noch lange bei seiner geheimnißvollen Lebensweise bleiben werde? Gott sei Dank, nein, — hatte er geantwortet, — nur noch drei Monate, und dann werde ich dich niemals mehr verlassen, bis mich der Tod abruft. — Die junge Frau, welche ohnedies noch kinderlos war, erfreute sich an dieser nahen Aussicht; jedoch, — seltsame Beschaffenheit des menschlichen Gemüths! — bald war diese anfangs so befriedigende Verheißung der Stachel zur Erregung einer peinlichen inneren Unruhe. — Wenn er auf einmal seine bisherige räthselhafte Lebensweise aufgeben kann, welche Umstände bewogen ihn, so lange darin zu verharren und ihre zureichenden Gründe so ängstlich selbst vor den Blicken Derjenigen zu verschleiern, welche ihm die Nächsten sind? — Einige Zeit trug sie diesen Gedanken mit sich herum, wurde stiller, und Williams bemerkte und errieth bei seiner nächsten Anwesenheit den Anlaß ihrer Verstimmung. — Beruhige dich, und forsche nicht unberufen nach meinen Geheimnissen, äußerte er ernst. — Es ist ein furchtbarer Drache, der bald seine ihm vom Schicksal bestimmte Frist ausgelebt haben wird, der aber bis zum letzten Augenblicke seines Daseins die Kraft hat, <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0046"/> der aufmerksamste Gatte für Betty, der liebenswürdigste Freund für seine wenigen Bekannten in der Nachbarschaft des Dorfes, ohne indessen an seiner bisherigen Lebensweise auch nur das Mindeste zu ändern. Man gewöhnte sich daran, und Niemand hatte etwas dagegen. Betty hatte ihn einst gefragt, ob er noch lange bei seiner geheimnißvollen Lebensweise bleiben werde? Gott sei Dank, nein, — hatte er geantwortet, — nur noch drei Monate, und dann werde ich dich niemals mehr verlassen, bis mich der Tod abruft. — Die junge Frau, welche ohnedies noch kinderlos war, erfreute sich an dieser nahen Aussicht; jedoch, — seltsame Beschaffenheit des menschlichen Gemüths! — bald war diese anfangs so befriedigende Verheißung der Stachel zur Erregung einer peinlichen inneren Unruhe. — Wenn er auf einmal seine bisherige räthselhafte Lebensweise aufgeben kann, welche Umstände bewogen ihn, so lange darin zu verharren und ihre zureichenden Gründe so ängstlich selbst vor den Blicken Derjenigen zu verschleiern, welche ihm die Nächsten sind? — Einige Zeit trug sie diesen Gedanken mit sich herum, wurde stiller, und Williams bemerkte und errieth bei seiner nächsten Anwesenheit den Anlaß ihrer Verstimmung. — Beruhige dich, und forsche nicht unberufen nach meinen Geheimnissen, äußerte er ernst. — Es ist ein <choice><sic>fuchtbarer</sic><corr>furchtbarer</corr></choice> Drache, der bald seine ihm vom Schicksal bestimmte Frist ausgelebt haben wird, der aber bis zum letzten Augenblicke seines Daseins die Kraft hat,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0046]
der aufmerksamste Gatte für Betty, der liebenswürdigste Freund für seine wenigen Bekannten in der Nachbarschaft des Dorfes, ohne indessen an seiner bisherigen Lebensweise auch nur das Mindeste zu ändern. Man gewöhnte sich daran, und Niemand hatte etwas dagegen. Betty hatte ihn einst gefragt, ob er noch lange bei seiner geheimnißvollen Lebensweise bleiben werde? Gott sei Dank, nein, — hatte er geantwortet, — nur noch drei Monate, und dann werde ich dich niemals mehr verlassen, bis mich der Tod abruft. — Die junge Frau, welche ohnedies noch kinderlos war, erfreute sich an dieser nahen Aussicht; jedoch, — seltsame Beschaffenheit des menschlichen Gemüths! — bald war diese anfangs so befriedigende Verheißung der Stachel zur Erregung einer peinlichen inneren Unruhe. — Wenn er auf einmal seine bisherige räthselhafte Lebensweise aufgeben kann, welche Umstände bewogen ihn, so lange darin zu verharren und ihre zureichenden Gründe so ängstlich selbst vor den Blicken Derjenigen zu verschleiern, welche ihm die Nächsten sind? — Einige Zeit trug sie diesen Gedanken mit sich herum, wurde stiller, und Williams bemerkte und errieth bei seiner nächsten Anwesenheit den Anlaß ihrer Verstimmung. — Beruhige dich, und forsche nicht unberufen nach meinen Geheimnissen, äußerte er ernst. — Es ist ein furchtbarer Drache, der bald seine ihm vom Schicksal bestimmte Frist ausgelebt haben wird, der aber bis zum letzten Augenblicke seines Daseins die Kraft hat,
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Zitationshilfe: | Heyden, Friedrich von: Der graue John. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 13. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 177–231. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyden_john_1910/46>, abgerufen am 16.07.2024. |