ter seyn muste, aufs Haupt gebunden und nicht um den Kopf fliegend. Keiner Bacchante flat- terts, denn es kann ja nicht flattern: dem schnell- gehenden zornigen Apollo ists "wie die zarten und "flüßigen Schlingen edler Weinreben, gleichsam "von einer sanften Luft bewegt, das Haupt um- "spielend". Bey andern liegts wie eine schöne Decke (exomsia) hinauf, bei andern in tiefen Fur- chen hinunter. Nie aber fährts, wie einer ge- mahlten Eva, längelang hinunter, der Gestalt den Rücken zu rauben, und selbst bei einer Aphro- dite aus Muschel oder Bade, fällets, obwohl naß und Klettenweise, doch wohlgeordnet und nicht waldicht hinab: denn dem Gefühl müssen die Haare nie Wald, sondern sanfte, nachge- bende Masse werden, die sich endlich selbst ver- liert. Der Mahlerei sind sie Farbe, Schatte, Schattierung, die kann sie schon freier ordnen. --
Es ist bekannt, mit welcher Feinheit die Griechischen Künstler die Augenbranen ihrer Statuen angedeutet haben; angedeutet, in einem feinen, scharfen Faden, und nicht in abgetrenn- ten Haaren oder Haarklümpgen gebildet. Win- kelmann hält diese Andeutung für Augenbranen der Gratien und ich halte sie auch dafür -- in der Kunst nehmlich. Jn der Natur ist der nackte, scharfe Faden ganz etwas anders, und auch Griechische Natur war und ists nicht, wie
kein
ter ſeyn muſte, aufs Haupt gebunden und nicht um den Kopf fliegend. Keiner Bacchante flat- terts, denn es kann ja nicht flattern: dem ſchnell- gehenden zornigen Apollo iſts „wie die zarten und „fluͤßigen Schlingen edler Weinreben, gleichſam „von einer ſanften Luft bewegt, das Haupt um- „ſpielend„. Bey andern liegts wie eine ſchoͤne Decke (εξομσια) hinauf, bei andern in tiefen Fur- chen hinunter. Nie aber faͤhrts, wie einer ge- mahlten Eva, laͤngelang hinunter, der Geſtalt den Ruͤcken zu rauben, und ſelbſt bei einer Aphro- dite aus Muſchel oder Bade, faͤllets, obwohl naß und Klettenweiſe, doch wohlgeordnet und nicht waldicht hinab: denn dem Gefuͤhl muͤſſen die Haare nie Wald, ſondern ſanfte, nachge- bende Maſſe werden, die ſich endlich ſelbſt ver- liert. Der Mahlerei ſind ſie Farbe, Schatte, Schattierung, die kann ſie ſchon freier ordnen. —
Es iſt bekannt, mit welcher Feinheit die Griechiſchen Kuͤnſtler die Augenbranen ihrer Statuen angedeutet haben; angedeutet, in einem feinen, ſcharfen Faden, und nicht in abgetrenn- ten Haaren oder Haarkluͤmpgen gebildet. Win- kelmann haͤlt dieſe Andeutung fuͤr Augenbranen der Gratien und ich halte ſie auch dafuͤr — in der Kunſt nehmlich. Jn der Natur iſt der nackte, ſcharfe Faden ganz etwas anders, und auch Griechiſche Natur war und iſts nicht, wie
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ter ſeyn muſte, aufs Haupt gebunden und nicht
um den Kopf fliegend. Keiner Bacchante flat-
terts, denn es kann ja nicht flattern: dem ſchnell-
gehenden zornigen Apollo iſts „wie die zarten und
„fluͤßigen Schlingen edler Weinreben, gleichſam
„von einer ſanften Luft bewegt, das Haupt um-
„ſpielend„. Bey andern liegts wie eine ſchoͤne
Decke (εξομσια) hinauf, bei andern in tiefen Fur-
chen hinunter. Nie aber faͤhrts, wie einer ge-
mahlten Eva, laͤngelang hinunter, der Geſtalt
den Ruͤcken zu rauben, und ſelbſt bei einer Aphro-
dite aus Muſchel oder Bade, faͤllets, obwohl
naß und Klettenweiſe, doch wohlgeordnet und
nicht waldicht hinab: denn dem Gefuͤhl muͤſſen
die Haare nie Wald, ſondern ſanfte, nachge-
bende Maſſe werden, die ſich endlich ſelbſt ver-
liert. Der Mahlerei ſind ſie Farbe, Schatte,
Schattierung, die kann ſie ſchon freier ordnen. —
Es iſt bekannt, mit welcher Feinheit die
Griechiſchen Kuͤnſtler die Augenbranen ihrer
Statuen angedeutet haben; angedeutet, in einem
feinen, ſcharfen Faden, und nicht in abgetrenn-
ten Haaren oder Haarkluͤmpgen gebildet. Win-
kelmann haͤlt dieſe Andeutung fuͤr Augenbranen
der Gratien und ich halte ſie auch dafuͤr — in
der Kunſt nehmlich. Jn der Natur iſt der
nackte, ſcharfe Faden ganz etwas anders, und
auch Griechiſche Natur war und iſts nicht, wie
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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/49>, abgerufen am 27.07.2024.
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