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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

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in ihren Schoos geflohen, beugt sich und verbirgt
sich, damit eben durch sie nur die Mutter allein
und erhaben und als Mutter solcher Kinder
erschiene.

Zwei brüderliche Freunde, die sich in der
einfachsten Stellung auf einander lehnen; ein
Paar, das sich in der einfachsten Stellung mit
einem Kuß verschwistert, sind so wenig, Grup-
pe zu nennen, als Leda und der Schwan, Ju-
piter
und sein Adler. Der Künstler fühlte das
ewige Gesetz, das Wesen seiner Kunst, die nur
Eins gibt, und in dem Einen Alles! die, je mehr
sie zerstücket, theilt, gruppirt, häufet, um so
ärmer wird und zuletzt eine Taube nöthig hat, die
über der ganzen Gruppe schwebe und mit einem
Steinzettel im Schnabel sage: was der Stein-
wald
bedeute? denn weder dem sehenden Blick
noch der tastenden Hand bedeutet jede einzelne
Statue
nun Etwas.

Tretet einmal her an diese noble Gruppe:
Arria und Pätus, nebst Kammerfrauen und
Bedienten. Wo sollt ihr stehen? welcher Per-
son im Rücken? denn die Gruppe steht frei von
allen Seiten mit mahlerischem Anstande. Und
wenn ihr gar euer Gefühl zu Hülfe nehmen woll-
tet, wo anfangen? wo aufhören? und wo ist
nun der Geist? des Bildes Eine ganze Seele?
Alle in Schmerz, alle in Heldenmuth, alle das

zärt-

in ihren Schoos geflohen, beugt ſich und verbirgt
ſich, damit eben durch ſie nur die Mutter allein
und erhaben und als Mutter ſolcher Kinder
erſchiene.

Zwei bruͤderliche Freunde, die ſich in der
einfachſten Stellung auf einander lehnen; ein
Paar, das ſich in der einfachſten Stellung mit
einem Kuß verſchwiſtert, ſind ſo wenig, Grup-
pe zu nennen, als Leda und der Schwan, Ju-
piter
und ſein Adler. Der Kuͤnſtler fuͤhlte das
ewige Geſetz, das Weſen ſeiner Kunſt, die nur
Eins gibt, und in dem Einen Alles! die, je mehr
ſie zerſtuͤcket, theilt, gruppirt, haͤufet, um ſo
aͤrmer wird und zuletzt eine Taube noͤthig hat, die
uͤber der ganzen Gruppe ſchwebe und mit einem
Steinzettel im Schnabel ſage: was der Stein-
wald
bedeute? denn weder dem ſehenden Blick
noch der taſtenden Hand bedeutet jede einzelne
Statue
nun Etwas.

Tretet einmal her an dieſe noble Gruppe:
Arria und Paͤtus, nebſt Kammerfrauen und
Bedienten. Wo ſollt ihr ſtehen? welcher Per-
ſon im Ruͤcken? denn die Gruppe ſteht frei von
allen Seiten mit mahleriſchem Anſtande. Und
wenn ihr gar euer Gefuͤhl zu Huͤlfe nehmen woll-
tet, wo anfangen? wo aufhoͤren? und wo iſt
nun der Geiſt? des Bildes Eine ganze Seele?
Alle in Schmerz, alle in Heldenmuth, alle das

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[139/0142] in ihren Schoos geflohen, beugt ſich und verbirgt ſich, damit eben durch ſie nur die Mutter allein und erhaben und als Mutter ſolcher Kinder erſchiene. Zwei bruͤderliche Freunde, die ſich in der einfachſten Stellung auf einander lehnen; ein Paar, das ſich in der einfachſten Stellung mit einem Kuß verſchwiſtert, ſind ſo wenig, Grup- pe zu nennen, als Leda und der Schwan, Ju- piter und ſein Adler. Der Kuͤnſtler fuͤhlte das ewige Geſetz, das Weſen ſeiner Kunſt, die nur Eins gibt, und in dem Einen Alles! die, je mehr ſie zerſtuͤcket, theilt, gruppirt, haͤufet, um ſo aͤrmer wird und zuletzt eine Taube noͤthig hat, die uͤber der ganzen Gruppe ſchwebe und mit einem Steinzettel im Schnabel ſage: was der Stein- wald bedeute? denn weder dem ſehenden Blick noch der taſtenden Hand bedeutet jede einzelne Statue nun Etwas. Tretet einmal her an dieſe noble Gruppe: Arria und Paͤtus, nebſt Kammerfrauen und Bedienten. Wo ſollt ihr ſtehen? welcher Per- ſon im Ruͤcken? denn die Gruppe ſteht frei von allen Seiten mit mahleriſchem Anſtande. Und wenn ihr gar euer Gefuͤhl zu Huͤlfe nehmen woll- tet, wo anfangen? wo aufhoͤren? und wo iſt nun der Geiſt? des Bildes Eine ganze Seele? Alle in Schmerz, alle in Heldenmuth, alle das zaͤrt-

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/142>, abgerufen am 23.11.2024.