Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



"Raisonnement, das sich bis auf die Grund-
"säulen
der Gesellschaft erstreckt, die sonst nur
"standen und trugen!" Und auch da kann
ichs in zehnerley Betracht kaum begreifen, wie
das so allgemein und einzig für den G[i]pfel
und Zweck aller menschlichen Bildung, alles
Glücks, alles Guten verraisonnirt werden
könne? Jst denn der ganze Körper bestimmt
zu sehen? und muß, wenn Hand und Fuß
Auge und Gehirn seyn will, nicht der ganze
Körper leiden? Raisonnement zu unvorsüch-
tig, zu unnütz verbreitet -- obs nicht Nei-
gung, Trieb, Thätigkeit
zu leben, schwächen
könnte und würklich geschwächt habe? --

Allerdings mag nun wohl diese Ermattung
dem Geiste mancher Länder bequem seyn: er-
mattete Glieder müssen fort, haben keine Kräfte
als -- etwa zum Gegendenken. Jedes Rad
bleibt aus Furcht, oder Gewohnheit oder
Ueppigkeit und Philosophie an der Stelle und
was ist nun so manche große philosophischre-
gierte Heerde, als ein zusammengezwungner Hau-
fe -- Vieh und Holz! Sie denken! man breitet
Denken vielleicht unter sie aus -- bis auf einen
Punkt:
damit sich von Tage zu Tage mehr als
Maschine fühlen, aber nach gegebenen Vor-

ur-
G 5



Raiſonnement, das ſich bis auf die Grund-
„ſaͤulen
der Geſellſchaft erſtreckt, die ſonſt nur
ſtanden und trugen!„ Und auch da kann
ichs in zehnerley Betracht kaum begreifen, wie
das ſo allgemein und einzig fuͤr den G[i]pfel
und Zweck aller menſchlichen Bildung, alles
Gluͤcks, alles Guten verraiſonnirt werden
koͤnne? Jſt denn der ganze Koͤrper beſtimmt
zu ſehen? und muß, wenn Hand und Fuß
Auge und Gehirn ſeyn will, nicht der ganze
Koͤrper leiden? Raiſonnement zu unvorſuͤch-
tig, zu unnuͤtz verbreitet — obs nicht Nei-
gung, Trieb, Thaͤtigkeit
zu leben, ſchwaͤchen
koͤnnte und wuͤrklich geſchwaͤcht habe? —

Allerdings mag nun wohl dieſe Ermattung
dem Geiſte mancher Laͤnder bequem ſeyn: er-
mattete Glieder muͤſſen fort, haben keine Kraͤfte
als — etwa zum Gegendenken. Jedes Rad
bleibt aus Furcht, oder Gewohnheit oder
Ueppigkeit und Philoſophie an der Stelle und
was iſt nun ſo manche große philoſophiſchre-
gierte Heerde, als ein zuſammengezwungner Hau-
fe — Vieh und Holz! Sie denken! man breitet
Denken vielleicht unter ſie aus — bis auf einen
Punkt:
damit ſich von Tage zu Tage mehr als
Maſchine fuͤhlen, aber nach gegebenen Vor-

ur-
G 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0109" n="105"/><fw place="top" type="header"><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/></fw> &#x201E;<hi rendition="#b">Rai&#x017F;onnement,</hi> das &#x017F;ich bis auf die <hi rendition="#b">Grund-<lb/>
&#x201E;&#x017F;a&#x0364;ulen</hi> der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft er&#x017F;treckt, die &#x017F;on&#x017F;t nur<lb/>
&#x201E;<hi rendition="#b">&#x017F;tanden</hi> und <hi rendition="#b">trugen!&#x201E;</hi> Und auch da kann<lb/>
ichs in zehnerley Betracht kaum begreifen, wie<lb/>
das &#x017F;o <hi rendition="#b">allgemein</hi> und <hi rendition="#b">einzig</hi> fu&#x0364;r den <hi rendition="#b">G<supplied>i</supplied>pfel</hi><lb/>
und <hi rendition="#b">Zweck</hi> aller men&#x017F;chlichen Bildung, alles<lb/><hi rendition="#b">Glu&#x0364;cks,</hi> alles <hi rendition="#b">Guten</hi> verrai&#x017F;onnirt werden<lb/>
ko&#x0364;nne? J&#x017F;t denn der ganze Ko&#x0364;rper be&#x017F;timmt<lb/>
zu <hi rendition="#b">&#x017F;ehen?</hi> und muß, wenn Hand und Fuß<lb/><hi rendition="#b">Auge</hi> und <hi rendition="#b">Gehirn</hi> &#x017F;eyn will, nicht der ganze<lb/>
Ko&#x0364;rper leiden? Rai&#x017F;onnement zu unvor&#x017F;u&#x0364;ch-<lb/>
tig, zu unnu&#x0364;tz verbreitet &#x2014; obs nicht <hi rendition="#b">Nei-<lb/>
gung, Trieb, Tha&#x0364;tigkeit</hi> zu leben, &#x017F;chwa&#x0364;chen<lb/><hi rendition="#b">ko&#x0364;nnte</hi> und wu&#x0364;rklich ge&#x017F;chwa&#x0364;cht habe? &#x2014;</p><lb/>
          <p>Allerdings mag nun wohl die&#x017F;e <hi rendition="#b">Ermattung</hi><lb/>
dem Gei&#x017F;te mancher La&#x0364;nder bequem &#x017F;eyn: er-<lb/>
mattete Glieder mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en fort, haben keine Kra&#x0364;fte<lb/>
als &#x2014; etwa zum <hi rendition="#b">Gegendenken.</hi> Jedes Rad<lb/>
bleibt aus <hi rendition="#b">Furcht,</hi> oder <hi rendition="#b">Gewohnheit</hi> oder<lb/><hi rendition="#b">Ueppigkeit</hi> und <hi rendition="#b">Philo&#x017F;ophie an</hi> der Stelle und<lb/>
was i&#x017F;t nun &#x017F;o manche große philo&#x017F;ophi&#x017F;chre-<lb/>
gierte Heerde, als ein zu&#x017F;ammengezwungner Hau-<lb/>
fe &#x2014; Vieh und Holz! Sie denken! man <hi rendition="#b">breitet</hi><lb/>
Denken vielleicht unter &#x017F;ie aus &#x2014; <hi rendition="#b">bis auf einen<lb/>
Punkt:</hi> damit &#x017F;ich von Tage zu Tage mehr als<lb/>
Ma&#x017F;chine <hi rendition="#b">fu&#x0364;hlen,</hi> aber nach <hi rendition="#b">gegebenen Vor-</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G 5</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#b">ur-</hi></fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[105/0109] „Raiſonnement, das ſich bis auf die Grund- „ſaͤulen der Geſellſchaft erſtreckt, die ſonſt nur „ſtanden und trugen!„ Und auch da kann ichs in zehnerley Betracht kaum begreifen, wie das ſo allgemein und einzig fuͤr den Gipfel und Zweck aller menſchlichen Bildung, alles Gluͤcks, alles Guten verraiſonnirt werden koͤnne? Jſt denn der ganze Koͤrper beſtimmt zu ſehen? und muß, wenn Hand und Fuß Auge und Gehirn ſeyn will, nicht der ganze Koͤrper leiden? Raiſonnement zu unvorſuͤch- tig, zu unnuͤtz verbreitet — obs nicht Nei- gung, Trieb, Thaͤtigkeit zu leben, ſchwaͤchen koͤnnte und wuͤrklich geſchwaͤcht habe? — Allerdings mag nun wohl dieſe Ermattung dem Geiſte mancher Laͤnder bequem ſeyn: er- mattete Glieder muͤſſen fort, haben keine Kraͤfte als — etwa zum Gegendenken. Jedes Rad bleibt aus Furcht, oder Gewohnheit oder Ueppigkeit und Philoſophie an der Stelle und was iſt nun ſo manche große philoſophiſchre- gierte Heerde, als ein zuſammengezwungner Hau- fe — Vieh und Holz! Sie denken! man breitet Denken vielleicht unter ſie aus — bis auf einen Punkt: damit ſich von Tage zu Tage mehr als Maſchine fuͤhlen, aber nach gegebenen Vor- ur- G 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/109
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/109>, abgerufen am 22.11.2024.