Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

seine Lehrart heterodox an, und preiset sie,
vielleicht aus Liebe zur neuern Heterodoxie, an:
denn so heißen die folgende homiletische Er-
eiferungen: "aber wissen Sie denn nicht, daß
"jetzt ein guter Christ ganz etwas anders zu
"seyn anfängt, als er noch vor dreyßig,
"funfzig Jahren war? Die Orthodoxie ist
"ein Gespötte worden; man begnügt sich mit
"einer lieblichen Quintessenz, die man aus
"dem Christenthum gezogen hat, und weicht
"allem Verdacht der Freidenkerei aus, wenn
"man von der Religion fein enthusiastisch zu
"schwatzen weiß." Wie wäre es, wenn
diese Worte in einer allgemeinen deutschen
Bibliothek
geprüft worden wären?

Aber es kann alles dies seyn: das bleibt
doch immer, daß es eben dieser Recensent
nicht wissen, hier bei dem Aufseher sagen,
und bei dieser Gelegenheit am mindesten sa-
gen durfte. Der Aufseher irrt in der Er-
ziehungsmethode seiner Kinder; ist er darum
ein Heterodox, nicht so ein guter Christ, als
die Leute vor dreyßig Jahren; gehört er zu
der Zeit, der die Orthodoxie ein Gespötte ist
u. s. w. Der Kunstrichter darf freilich nicht

alles

ſeine Lehrart heterodox an, und preiſet ſie,
vielleicht aus Liebe zur neuern Heterodoxie, an:
denn ſo heißen die folgende homiletiſche Er-
eiferungen: „aber wiſſen Sie denn nicht, daß
„jetzt ein guter Chriſt ganz etwas anders zu
„ſeyn anfaͤngt, als er noch vor dreyßig,
„funfzig Jahren war? Die Orthodoxie iſt
„ein Geſpoͤtte worden; man begnuͤgt ſich mit
„einer lieblichen Quinteſſenz, die man aus
„dem Chriſtenthum gezogen hat, und weicht
„allem Verdacht der Freidenkerei aus, wenn
„man von der Religion fein enthuſiaſtiſch zu
„ſchwatzen weiß.„ Wie waͤre es, wenn
dieſe Worte in einer allgemeinen deutſchen
Bibliothek
gepruͤft worden waͤren?

Aber es kann alles dies ſeyn: das bleibt
doch immer, daß es eben dieſer Recenſent
nicht wiſſen, hier bei dem Aufſeher ſagen,
und bei dieſer Gelegenheit am mindeſten ſa-
gen durfte. Der Aufſeher irrt in der Er-
ziehungsmethode ſeiner Kinder; iſt er darum
ein Heterodox, nicht ſo ein guter Chriſt, als
die Leute vor dreyßig Jahren; gehoͤrt er zu
der Zeit, der die Orthodoxie ein Geſpoͤtte iſt
u. ſ. w. Der Kunſtrichter darf freilich nicht

alles
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0306" n="298"/>
&#x017F;eine Lehrart heterodox an, und prei&#x017F;et &#x017F;ie,<lb/>
vielleicht aus Liebe zur neuern Heterodoxie, an:<lb/>
denn &#x017F;o heißen die folgende homileti&#x017F;che Er-<lb/>
eiferungen: &#x201E;aber wi&#x017F;&#x017F;en Sie denn nicht, daß<lb/>
&#x201E;jetzt ein guter Chri&#x017F;t ganz etwas anders zu<lb/>
&#x201E;&#x017F;eyn anfa&#x0364;ngt, als er noch vor dreyßig,<lb/>
&#x201E;funfzig Jahren war? Die Orthodoxie i&#x017F;t<lb/>
&#x201E;ein Ge&#x017F;po&#x0364;tte worden; man begnu&#x0364;gt &#x017F;ich mit<lb/>
&#x201E;einer lieblichen Quinte&#x017F;&#x017F;enz, die man aus<lb/>
&#x201E;dem Chri&#x017F;tenthum gezogen hat, und weicht<lb/>
&#x201E;allem Verdacht der Freidenkerei aus, wenn<lb/>
&#x201E;man von der Religion fein enthu&#x017F;ia&#x017F;ti&#x017F;ch zu<lb/>
&#x201E;&#x017F;chwatzen weiß.&#x201E; Wie wa&#x0364;re es, wenn<lb/>
die&#x017F;e Worte in einer <hi rendition="#fr">allgemeinen deut&#x017F;chen<lb/>
Bibliothek</hi> gepru&#x0364;ft worden wa&#x0364;ren?</p><lb/>
                <p>Aber es kann alles dies &#x017F;eyn: das bleibt<lb/>
doch immer, daß es eben die&#x017F;er Recen&#x017F;ent<lb/><hi rendition="#fr">nicht wi&#x017F;&#x017F;en,</hi> hier bei dem Auf&#x017F;eher &#x017F;agen,<lb/>
und bei die&#x017F;er Gelegenheit am minde&#x017F;ten &#x017F;a-<lb/>
gen durfte. Der Auf&#x017F;eher irrt in der Er-<lb/>
ziehungsmethode &#x017F;einer Kinder; i&#x017F;t er darum<lb/>
ein Heterodox, nicht &#x017F;o ein guter Chri&#x017F;t, als<lb/>
die Leute vor dreyßig Jahren; geho&#x0364;rt er zu<lb/>
der Zeit, der die Orthodoxie ein Ge&#x017F;po&#x0364;tte i&#x017F;t<lb/>
u. &#x017F;. w. Der Kun&#x017F;trichter darf freilich nicht<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">alles</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[298/0306] ſeine Lehrart heterodox an, und preiſet ſie, vielleicht aus Liebe zur neuern Heterodoxie, an: denn ſo heißen die folgende homiletiſche Er- eiferungen: „aber wiſſen Sie denn nicht, daß „jetzt ein guter Chriſt ganz etwas anders zu „ſeyn anfaͤngt, als er noch vor dreyßig, „funfzig Jahren war? Die Orthodoxie iſt „ein Geſpoͤtte worden; man begnuͤgt ſich mit „einer lieblichen Quinteſſenz, die man aus „dem Chriſtenthum gezogen hat, und weicht „allem Verdacht der Freidenkerei aus, wenn „man von der Religion fein enthuſiaſtiſch zu „ſchwatzen weiß.„ Wie waͤre es, wenn dieſe Worte in einer allgemeinen deutſchen Bibliothek gepruͤft worden waͤren? Aber es kann alles dies ſeyn: das bleibt doch immer, daß es eben dieſer Recenſent nicht wiſſen, hier bei dem Aufſeher ſagen, und bei dieſer Gelegenheit am mindeſten ſa- gen durfte. Der Aufſeher irrt in der Er- ziehungsmethode ſeiner Kinder; iſt er darum ein Heterodox, nicht ſo ein guter Chriſt, als die Leute vor dreyßig Jahren; gehoͤrt er zu der Zeit, der die Orthodoxie ein Geſpoͤtte iſt u. ſ. w. Der Kunſtrichter darf freilich nicht alles

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/306
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/306>, abgerufen am 21.11.2024.