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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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wollte. So siehet ein Geliebter in den Ge-
heimnissen seiner Schöne Verunstaltungen, er
will sie nicht sehen, und schlägt die Augen
nieder; aber er sieht auch in diesen Geheim-
nissen etwas Ansteckendes, das kann er eben
aus Liebe zu ihr nicht verschweigen.

Ein Kunstrichter sieht seinem Schriftsteller
ins Gesicht, ohne nach seinem Herzen zu schie-
len. Er irret; -- warum mußte der Jrr-
thum aus dem Herzen kommen? leite ihn in
den Verstand zurück und bessre ihn. Jst
der Jrrthum schädlich; ohne den Jrrenden
über die Achsel verachtend anzusehen, und zu
eifern: zeige blos das Nicht-Nützliche in
seinem Jrrthum; so wird ihn kein Mensch
annehmen. Es gibt gewisse Seitenblicke, die
mehr sagen, als ein ganzes Gespräch, die
der, so sie gethan, leicht wegschwatzen kann;
aber der, so sie gesehen, läßt sie sich nicht
wegschwatzen. Ein Wort vergißt man; ein
Blick bleibt in der Seele.

Jch habe Wielands Letzte der Sympa-
thien
in seinen prosaischen Schriften gelesen,
und sie ist der Pendant zu der Recension *, die

ihn
* Litt. Br. Th. 1. p. 35. 36. 40. 62. 63. 64.

wollte. So ſiehet ein Geliebter in den Ge-
heimniſſen ſeiner Schoͤne Verunſtaltungen, er
will ſie nicht ſehen, und ſchlaͤgt die Augen
nieder; aber er ſieht auch in dieſen Geheim-
niſſen etwas Anſteckendes, das kann er eben
aus Liebe zu ihr nicht verſchweigen.

Ein Kunſtrichter ſieht ſeinem Schriftſteller
ins Geſicht, ohne nach ſeinem Herzen zu ſchie-
len. Er irret; — warum mußte der Jrr-
thum aus dem Herzen kommen? leite ihn in
den Verſtand zuruͤck und beſſre ihn. Jſt
der Jrrthum ſchaͤdlich; ohne den Jrrenden
uͤber die Achſel verachtend anzuſehen, und zu
eifern: zeige blos das Nicht-Nuͤtzliche in
ſeinem Jrrthum; ſo wird ihn kein Menſch
annehmen. Es gibt gewiſſe Seitenblicke, die
mehr ſagen, als ein ganzes Geſpraͤch, die
der, ſo ſie gethan, leicht wegſchwatzen kann;
aber der, ſo ſie geſehen, laͤßt ſie ſich nicht
wegſchwatzen. Ein Wort vergißt man; ein
Blick bleibt in der Seele.

Jch habe Wielands Letzte der Sympa-
thien
in ſeinen proſaiſchen Schriften geleſen,
und ſie iſt der Pendant zu der Recenſion *, die

ihn
* Litt. Br. Th. 1. p. 35. 36. 40. 62. 63. 64.
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[296/0304] wollte. So ſiehet ein Geliebter in den Ge- heimniſſen ſeiner Schoͤne Verunſtaltungen, er will ſie nicht ſehen, und ſchlaͤgt die Augen nieder; aber er ſieht auch in dieſen Geheim- niſſen etwas Anſteckendes, das kann er eben aus Liebe zu ihr nicht verſchweigen. Ein Kunſtrichter ſieht ſeinem Schriftſteller ins Geſicht, ohne nach ſeinem Herzen zu ſchie- len. Er irret; — warum mußte der Jrr- thum aus dem Herzen kommen? leite ihn in den Verſtand zuruͤck und beſſre ihn. Jſt der Jrrthum ſchaͤdlich; ohne den Jrrenden uͤber die Achſel verachtend anzuſehen, und zu eifern: zeige blos das Nicht-Nuͤtzliche in ſeinem Jrrthum; ſo wird ihn kein Menſch annehmen. Es gibt gewiſſe Seitenblicke, die mehr ſagen, als ein ganzes Geſpraͤch, die der, ſo ſie gethan, leicht wegſchwatzen kann; aber der, ſo ſie geſehen, laͤßt ſie ſich nicht wegſchwatzen. Ein Wort vergißt man; ein Blick bleibt in der Seele. Jch habe Wielands Letzte der Sympa- thien in ſeinen proſaiſchen Schriften geleſen, und ſie iſt der Pendant zu der Recenſion *, die ihn * Litt. Br. Th. 1. p. 35. 36. 40. 62. 63. 64.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/304>, abgerufen am 21.11.2024.