Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.Felsen, wo die Aussicht und Stille in der dienen; er uns in dunkle Wälder, an rauschende Flüsse, in ein einsames Gehölz, in hole Felsen führt, plötzlich den Schatten seines Freundes vor unsern verwirrten Blick stellet, seine letz- ten Worte und das unbekannte Gebiet der Ewigkeit in unsre Seele leitet -- und jetzt in dieser ehrwürdigen Fassung unsern Geist erwischt. Dies ist das Kunststück, das der Genfische Bürger vorzüglich gebraucht, um seine Lehren einzudrucken, und der gute Sa- voyische Vikar würde seinen Schüler oft Jäh- nen gemacht haben, wenn nicht ihre Situa- tion so lebhaft vorbereitete. * Nur nicht die einsame Stube eines Poeten,
drey Treppen hoch, unter dem offnen Dach, bei zerschlagnen Fensterscheiben, wo Schnee und Kälte durchzeucht, weil hier so viel saty- tyrische Nebenzüge sich aus den Dichtern und witzigen Köpfen mit in unsre Seele stehlen. -- Jndessen hat der Verfasser des Drama: das Gemälde der Dürftigkeit sich einiger dieser Züge glücklich zu bedienen gewußt. Felſen, wo die Ausſicht und Stille in der dienen; er uns in dunkle Waͤlder, an rauſchende Fluͤſſe, in ein einſames Gehoͤlz, in hole Felſen fuͤhrt, ploͤtzlich den Schatten ſeines Freundes vor unſern verwirrten Blick ſtellet, ſeine letz- ten Worte und das unbekannte Gebiet der Ewigkeit in unſre Seele leitet — und jetzt in dieſer ehrwuͤrdigen Faſſung unſern Geiſt erwiſcht. Dies iſt das Kunſtſtuͤck, das der Genfiſche Buͤrger vorzuͤglich gebraucht, um ſeine Lehren einzudrucken, und der gute Sa- voyiſche Vikar wuͤrde ſeinen Schuͤler oft Jaͤh- nen gemacht haben, wenn nicht ihre Situa- tion ſo lebhaft vorbereitete. * Nur nicht die einſame Stube eines Poeten,
drey Treppen hoch, unter dem offnen Dach, bei zerſchlagnen Fenſterſcheiben, wo Schnee und Kaͤlte durchzeucht, weil hier ſo viel ſaty- tyriſche Nebenzuͤge ſich aus den Dichtern und witzigen Koͤpfen mit in unſre Seele ſtehlen. — Jndeſſen hat der Verfaſſer des Drama: das Gemaͤlde der Duͤrftigkeit ſich einiger dieſer Zuͤge gluͤcklich zu bedienen gewußt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0245" n="237"/> Felſen, wo die Ausſicht und Stille in der<lb/> Seele die Vorſtellung der Gefahr und das<lb/> Bewußtſeyn der Sicherheit wechſelsweiſe her-<lb/> vorbringen, meiſtens dazu erwaͤhlt worden.<lb/> Ein einſames Zimmer <note place="foot" n="*">Nur nicht die einſame Stube eines Poeten,<lb/> drey Treppen hoch, unter dem offnen Dach,<lb/> bei zerſchlagnen Fenſterſcheiben, wo Schnee<lb/> und Kaͤlte durchzeucht, weil hier ſo viel ſaty-<lb/> tyriſche Nebenzuͤge ſich aus den Dichtern und<lb/> witzigen Koͤpfen mit in unſre Seele ſtehlen. —<lb/> Jndeſſen hat der Verfaſſer des <hi rendition="#fr">Drama:</hi> das<lb/><hi rendition="#fr">Gemaͤlde der Duͤrftigkeit</hi> ſich einiger dieſer<lb/> Zuͤge gluͤcklich zu bedienen gewußt.</note> kann aber auch dazu<lb/> <fw place="bottom" type="catch">dienen;</fw><lb/><note xml:id="seg2pn_15_2" prev="#seg2pn_15_1" place="foot" n="*">er uns in dunkle Waͤlder, an rauſchende<lb/> Fluͤſſe, in ein einſames Gehoͤlz, in hole Felſen<lb/> fuͤhrt, ploͤtzlich den Schatten ſeines Freundes<lb/> vor unſern verwirrten Blick ſtellet, ſeine letz-<lb/> ten Worte und das unbekannte Gebiet der<lb/> Ewigkeit in unſre Seele leitet — und jetzt<lb/> in dieſer ehrwuͤrdigen Faſſung unſern Geiſt<lb/> erwiſcht. Dies iſt das Kunſtſtuͤck, das der<lb/><hi rendition="#fr">Genfiſche</hi> Buͤrger vorzuͤglich gebraucht, um<lb/> ſeine Lehren einzudrucken, und der gute Sa-<lb/> voyiſche Vikar wuͤrde ſeinen Schuͤler oft Jaͤh-<lb/> nen gemacht haben, wenn nicht ihre Situa-<lb/> tion ſo lebhaft vorbereitete.</note><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [237/0245]
Felſen, wo die Ausſicht und Stille in der
Seele die Vorſtellung der Gefahr und das
Bewußtſeyn der Sicherheit wechſelsweiſe her-
vorbringen, meiſtens dazu erwaͤhlt worden.
Ein einſames Zimmer * kann aber auch dazu
dienen;
*
* Nur nicht die einſame Stube eines Poeten,
drey Treppen hoch, unter dem offnen Dach,
bei zerſchlagnen Fenſterſcheiben, wo Schnee
und Kaͤlte durchzeucht, weil hier ſo viel ſaty-
tyriſche Nebenzuͤge ſich aus den Dichtern und
witzigen Koͤpfen mit in unſre Seele ſtehlen. —
Jndeſſen hat der Verfaſſer des Drama: das
Gemaͤlde der Duͤrftigkeit ſich einiger dieſer
Zuͤge gluͤcklich zu bedienen gewußt.
* er uns in dunkle Waͤlder, an rauſchende
Fluͤſſe, in ein einſames Gehoͤlz, in hole Felſen
fuͤhrt, ploͤtzlich den Schatten ſeines Freundes
vor unſern verwirrten Blick ſtellet, ſeine letz-
ten Worte und das unbekannte Gebiet der
Ewigkeit in unſre Seele leitet — und jetzt
in dieſer ehrwuͤrdigen Faſſung unſern Geiſt
erwiſcht. Dies iſt das Kunſtſtuͤck, das der
Genfiſche Buͤrger vorzuͤglich gebraucht, um
ſeine Lehren einzudrucken, und der gute Sa-
voyiſche Vikar wuͤrde ſeinen Schuͤler oft Jaͤh-
nen gemacht haben, wenn nicht ihre Situa-
tion ſo lebhaft vorbereitete.
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Zitationshilfe: | Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/245>, abgerufen am 18.07.2024. |