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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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"dem Gesetz der Einbildungskraft auf einan-
"der folgen werden. Der Dichter muß sich
"also in beide Verfassungen zugleich sezzen:
"er muß nachdenken und empfinden, und man
"siehet leicht, was ihm dies für Schwierig-
"keit machen muß. Ueberläßt er sich ganz
"ohne Plan dem Strome der Begeisterung
"und dichtet: so wird er zwar eine Folge von
"sehr lebhaften Begriffen hervorbringen kön-
"nen; aber diese Folge wird selten ein Gan-
"zes ausmachen, selten ein bestimmtes Sub-
"jekt, und nur durch ein Ungefähr die gehö-
"rige Einheit und angemeßne Kürze haben,
"vermöge welcher fie den kürzesten Weg zu
"ihrem Ziel eilet. Dieses geschieht, wenn die
"Gemüthsbewegung, als die Ursache der Be-
"geisterung, sehr heftig ist. Alsdenn eilet der
"Strom der Gedanken seinen Weg, unauf-
"haltsam und sicher, und die bloße Natur er-
"füllet alle Bedürfnisse der Kunst. Wenn
"aber ein gemäßigter Affekt herrschen soll:
"als nehmlich Hoffnung, Dankbarkeit,
"stille Freude
etc. so ist die Natur ohne Leit-
"faden der Kunst eine mißliche Führerinn.
"Sie führt den Dichter auf Abwege, sie er-

"laubt

„dem Geſetz der Einbildungskraft auf einan-
„der folgen werden. Der Dichter muß ſich
„alſo in beide Verfaſſungen zugleich ſezzen:
„er muß nachdenken und empfinden, und man
„ſiehet leicht, was ihm dies fuͤr Schwierig-
„keit machen muß. Ueberlaͤßt er ſich ganz
„ohne Plan dem Strome der Begeiſterung
„und dichtet: ſo wird er zwar eine Folge von
„ſehr lebhaften Begriffen hervorbringen koͤn-
„nen; aber dieſe Folge wird ſelten ein Gan-
„zes ausmachen, ſelten ein beſtimmtes Sub-
„jekt, und nur durch ein Ungefaͤhr die gehoͤ-
„rige Einheit und angemeßne Kuͤrze haben,
„vermoͤge welcher fie den kuͤrzeſten Weg zu
„ihrem Ziel eilet. Dieſes geſchieht, wenn die
„Gemuͤthsbewegung, als die Urſache der Be-
„geiſterung, ſehr heftig iſt. Alsdenn eilet der
„Strom der Gedanken ſeinen Weg, unauf-
„haltſam und ſicher, und die bloße Natur er-
„fuͤllet alle Beduͤrfniſſe der Kunſt. Wenn
„aber ein gemaͤßigter Affekt herrſchen ſoll:
„als nehmlich Hoffnung, Dankbarkeit,
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[196/0204] „dem Geſetz der Einbildungskraft auf einan- „der folgen werden. Der Dichter muß ſich „alſo in beide Verfaſſungen zugleich ſezzen: „er muß nachdenken und empfinden, und man „ſiehet leicht, was ihm dies fuͤr Schwierig- „keit machen muß. Ueberlaͤßt er ſich ganz „ohne Plan dem Strome der Begeiſterung „und dichtet: ſo wird er zwar eine Folge von „ſehr lebhaften Begriffen hervorbringen koͤn- „nen; aber dieſe Folge wird ſelten ein Gan- „zes ausmachen, ſelten ein beſtimmtes Sub- „jekt, und nur durch ein Ungefaͤhr die gehoͤ- „rige Einheit und angemeßne Kuͤrze haben, „vermoͤge welcher fie den kuͤrzeſten Weg zu „ihrem Ziel eilet. Dieſes geſchieht, wenn die „Gemuͤthsbewegung, als die Urſache der Be- „geiſterung, ſehr heftig iſt. Alsdenn eilet der „Strom der Gedanken ſeinen Weg, unauf- „haltſam und ſicher, und die bloße Natur er- „fuͤllet alle Beduͤrfniſſe der Kunſt. Wenn „aber ein gemaͤßigter Affekt herrſchen ſoll: „als nehmlich Hoffnung, Dankbarkeit, „ſtille Freude ꝛc. ſo iſt die Natur ohne Leit- „faden der Kunſt eine mißliche Fuͤhrerinn. „Sie fuͤhrt den Dichter auf Abwege, ſie er- „laubt

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/204>, abgerufen am 21.11.2024.