"dem Gesetz der Einbildungskraft auf einan- "der folgen werden. Der Dichter muß sich "also in beide Verfassungen zugleich sezzen: "er muß nachdenken und empfinden, und man "siehet leicht, was ihm dies für Schwierig- "keit machen muß. Ueberläßt er sich ganz "ohne Plan dem Strome der Begeisterung "und dichtet: so wird er zwar eine Folge von "sehr lebhaften Begriffen hervorbringen kön- "nen; aber diese Folge wird selten ein Gan- "zes ausmachen, selten ein bestimmtes Sub- "jekt, und nur durch ein Ungefähr die gehö- "rige Einheit und angemeßne Kürze haben, "vermöge welcher fie den kürzesten Weg zu "ihrem Ziel eilet. Dieses geschieht, wenn die "Gemüthsbewegung, als die Ursache der Be- "geisterung, sehr heftig ist. Alsdenn eilet der "Strom der Gedanken seinen Weg, unauf- "haltsam und sicher, und die bloße Natur er- "füllet alle Bedürfnisse der Kunst. Wenn "aber ein gemäßigter Affekt herrschen soll: "als nehmlich Hoffnung, Dankbarkeit, "stille Freude etc. so ist die Natur ohne Leit- "faden der Kunst eine mißliche Führerinn. "Sie führt den Dichter auf Abwege, sie er-
"laubt
„dem Geſetz der Einbildungskraft auf einan- „der folgen werden. Der Dichter muß ſich „alſo in beide Verfaſſungen zugleich ſezzen: „er muß nachdenken und empfinden, und man „ſiehet leicht, was ihm dies fuͤr Schwierig- „keit machen muß. Ueberlaͤßt er ſich ganz „ohne Plan dem Strome der Begeiſterung „und dichtet: ſo wird er zwar eine Folge von „ſehr lebhaften Begriffen hervorbringen koͤn- „nen; aber dieſe Folge wird ſelten ein Gan- „zes ausmachen, ſelten ein beſtimmtes Sub- „jekt, und nur durch ein Ungefaͤhr die gehoͤ- „rige Einheit und angemeßne Kuͤrze haben, „vermoͤge welcher fie den kuͤrzeſten Weg zu „ihrem Ziel eilet. Dieſes geſchieht, wenn die „Gemuͤthsbewegung, als die Urſache der Be- „geiſterung, ſehr heftig iſt. Alsdenn eilet der „Strom der Gedanken ſeinen Weg, unauf- „haltſam und ſicher, und die bloße Natur er- „fuͤllet alle Beduͤrfniſſe der Kunſt. Wenn „aber ein gemaͤßigter Affekt herrſchen ſoll: „als nehmlich Hoffnung, Dankbarkeit, „ſtille Freude ꝛc. ſo iſt die Natur ohne Leit- „faden der Kunſt eine mißliche Fuͤhrerinn. „Sie fuͤhrt den Dichter auf Abwege, ſie er-
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„dem Geſetz der Einbildungskraft auf einan-
„der folgen werden. Der Dichter muß ſich
„alſo in beide Verfaſſungen zugleich ſezzen:
„er muß nachdenken und empfinden, und man
„ſiehet leicht, was ihm dies fuͤr Schwierig-
„keit machen muß. Ueberlaͤßt er ſich ganz
„ohne Plan dem Strome der Begeiſterung
„und dichtet: ſo wird er zwar eine Folge von
„ſehr lebhaften Begriffen hervorbringen koͤn-
„nen; aber dieſe Folge wird ſelten ein Gan-
„zes ausmachen, ſelten ein beſtimmtes Sub-
„jekt, und nur durch ein Ungefaͤhr die gehoͤ-
„rige Einheit und angemeßne Kuͤrze haben,
„vermoͤge welcher fie den kuͤrzeſten Weg zu
„ihrem Ziel eilet. Dieſes geſchieht, wenn die
„Gemuͤthsbewegung, als die Urſache der Be-
„geiſterung, ſehr heftig iſt. Alsdenn eilet der
„Strom der Gedanken ſeinen Weg, unauf-
„haltſam und ſicher, und die bloße Natur er-
„fuͤllet alle Beduͤrfniſſe der Kunſt. Wenn
„aber ein gemaͤßigter Affekt herrſchen ſoll:
„als nehmlich Hoffnung, Dankbarkeit,
„ſtille Freude ꝛc. ſo iſt die Natur ohne Leit-
„faden der Kunſt eine mißliche Fuͤhrerinn.
„Sie fuͤhrt den Dichter auf Abwege, ſie er-
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/204>, abgerufen am 21.11.2024.
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