Stellung der Ode nach gewissen Mustern und Sazzungen. Könnte ichs doch laut rufen, daß, so wie ein regelmäßiges aubi- gnacsches Theaterstück ein elendes Werk seyn kann, dagegen ein Shakespearscher Lear oder Hamlet ohne alle Anlage den Zweck des Trauerspiels erreicht, dramatisch zu rühren; so sey es ganz und gar nicht die Hauptvollkommenheit einer Ode, so und so, nach diesen und jenen Mustern, mit der und jener Kunst angelegt zu seyn, daß sie die schöne Einheit, und die schöne Unordnung, die schöne Kürze und die schöne Methode habe, und was dergleichen schöne Regeln mehr sind, die nichts gelten, wenn man, um sie zu beob- achten, schöne, künstliche und frostige Oden, macht. Könnte ichs doch laut genug rufen, daß wer Horaz nachahmt, um ihn nachzuah- men, und ein schönes, regelmäßiges, künstli- ches, und gelehrtes Gerippe seiner Oden dar- zustellen, noch kein Horaz sey, wenn er nicht den Zweck der Ode erreicht, uns den lebhaf- ten Gedanken sinnlich darzustellen, daß jeder Zug der horazischen Mythologie, die es für ihn thun konnte, aber für uns nichts zu
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Stellung der Ode nach gewiſſen Muſtern und Sazzungen. Koͤnnte ichs doch laut rufen, daß, ſo wie ein regelmaͤßiges aubi- gnacſches Theaterſtuͤck ein elendes Werk ſeyn kann, dagegen ein Shakeſpearſcher Lear oder Hamlet ohne alle Anlage den Zweck des Trauerſpiels erreicht, dramatiſch zu ruͤhren; ſo ſey es ganz und gar nicht die Hauptvollkommenheit einer Ode, ſo und ſo, nach dieſen und jenen Muſtern, mit der und jener Kunſt angelegt zu ſeyn, daß ſie die ſchoͤne Einheit, und die ſchoͤne Unordnung, die ſchoͤne Kuͤrze und die ſchoͤne Methode habe, und was dergleichen ſchoͤne Regeln mehr ſind, die nichts gelten, wenn man, um ſie zu beob- achten, ſchoͤne, kuͤnſtliche und froſtige Oden, macht. Koͤnnte ichs doch laut genug rufen, daß wer Horaz nachahmt, um ihn nachzuah- men, und ein ſchoͤnes, regelmaͤßiges, kuͤnſtli- ches, und gelehrtes Gerippe ſeiner Oden dar- zuſtellen, noch kein Horaz ſey, wenn er nicht den Zweck der Ode erreicht, uns den lebhaf- ten Gedanken ſinnlich darzuſtellen, daß jeder Zug der horaziſchen Mythologie, die es fuͤr ihn thun konnte, aber fuͤr uns nichts zu
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Stellung der Ode nach gewiſſen Muſtern
und Sazzungen. Koͤnnte ichs doch laut
rufen, daß, ſo wie ein regelmaͤßiges aubi-
gnacſches Theaterſtuͤck ein elendes Werk
ſeyn kann, dagegen ein Shakeſpearſcher Lear
oder Hamlet ohne alle Anlage den Zweck
des Trauerſpiels erreicht, dramatiſch zu
ruͤhren; ſo ſey es ganz und gar nicht die
Hauptvollkommenheit einer Ode, ſo und
ſo, nach dieſen und jenen Muſtern, mit der
und jener Kunſt angelegt zu ſeyn, daß ſie die
ſchoͤne Einheit, und die ſchoͤne Unordnung, die
ſchoͤne Kuͤrze und die ſchoͤne Methode habe,
und was dergleichen ſchoͤne Regeln mehr ſind,
die nichts gelten, wenn man, um ſie zu beob-
achten, ſchoͤne, kuͤnſtliche und froſtige Oden,
macht. Koͤnnte ichs doch laut genug rufen,
daß wer Horaz nachahmt, um ihn nachzuah-
men, und ein ſchoͤnes, regelmaͤßiges, kuͤnſtli-
ches, und gelehrtes Gerippe ſeiner Oden dar-
zuſtellen, noch kein Horaz ſey, wenn er nicht
den Zweck der Ode erreicht, uns den lebhaf-
ten Gedanken ſinnlich darzuſtellen, daß
jeder Zug der horaziſchen Mythologie, die es
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/152>, abgerufen am 21.11.2024.
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