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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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gegeben, und jeder gute gesunde Verstand
muß also durch die Philosophie gleichsam hö-
her geleitet werden. Sie sind ihm aber ver-
worren
gegeben, er soll sie durch die Abstrak-
tion deutlich darstellen, und zergliedert sie
also, so weit er kann.

Man sieht bei dem ersten Anblick, daß alle
Weltweisheit ertödtet werde, wenn man sich
begnügt, den Gedanken implicite mit eben
dem Ausdruck zu denken.
Eben von ihm
muß ich ihn absondern, ihn in andre kleinere
Bestimmungen auflösen, ihn immer in ver-
ständlichen,
aber nach und nach in vernünf-
tigern Worten
zeigen, bis die Seele sich
endlich gleichsam erinnert, was sie mit dem
Worte gedacht hat, und vorher nicht sagen
konnte,
was sie in Platons Reich der Gei-
ster
sahe, und jetzt nochmals siehet, was in
ihr schlummerte, und jetzt erwachet. --
Wenn wir nie ohne Worte Deutlich denken
können: so ists eben der Zweck der Weltweis-
heit, die blos verständlichen Worte so lan-
ge umzusezzen, und zu wechseln, bis sie deut-
lich
werden; der Unterschied dieser beiden
Ausdrücke ist eben dadurch geschwächt, daß

wir

gegeben, und jeder gute geſunde Verſtand
muß alſo durch die Philoſophie gleichſam hoͤ-
her geleitet werden. Sie ſind ihm aber ver-
worren
gegeben, er ſoll ſie durch die Abſtrak-
tion deutlich darſtellen, und zergliedert ſie
alſo, ſo weit er kann.

Man ſieht bei dem erſten Anblick, daß alle
Weltweisheit ertoͤdtet werde, wenn man ſich
begnuͤgt, den Gedanken implicite mit eben
dem Ausdruck zu denken.
Eben von ihm
muß ich ihn abſondern, ihn in andre kleinere
Beſtimmungen aufloͤſen, ihn immer in ver-
ſtaͤndlichen,
aber nach und nach in vernuͤnf-
tigern Worten
zeigen, bis die Seele ſich
endlich gleichſam erinnert, was ſie mit dem
Worte gedacht hat, und vorher nicht ſagen
konnte,
was ſie in Platons Reich der Gei-
ſter
ſahe, und jetzt nochmals ſiehet, was in
ihr ſchlummerte, und jetzt erwachet. —
Wenn wir nie ohne Worte Deutlich denken
koͤnnen: ſo iſts eben der Zweck der Weltweis-
heit, die blos verſtaͤndlichen Worte ſo lan-
ge umzuſezzen, und zu wechſeln, bis ſie deut-
lich
werden; der Unterſchied dieſer beiden
Ausdruͤcke iſt eben dadurch geſchwaͤcht, daß

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[109/0117] gegeben, und jeder gute geſunde Verſtand muß alſo durch die Philoſophie gleichſam hoͤ- her geleitet werden. Sie ſind ihm aber ver- worren gegeben, er ſoll ſie durch die Abſtrak- tion deutlich darſtellen, und zergliedert ſie alſo, ſo weit er kann. Man ſieht bei dem erſten Anblick, daß alle Weltweisheit ertoͤdtet werde, wenn man ſich begnuͤgt, den Gedanken implicite mit eben dem Ausdruck zu denken. Eben von ihm muß ich ihn abſondern, ihn in andre kleinere Beſtimmungen aufloͤſen, ihn immer in ver- ſtaͤndlichen, aber nach und nach in vernuͤnf- tigern Worten zeigen, bis die Seele ſich endlich gleichſam erinnert, was ſie mit dem Worte gedacht hat, und vorher nicht ſagen konnte, was ſie in Platons Reich der Gei- ſter ſahe, und jetzt nochmals ſiehet, was in ihr ſchlummerte, und jetzt erwachet. — Wenn wir nie ohne Worte Deutlich denken koͤnnen: ſo iſts eben der Zweck der Weltweis- heit, die blos verſtaͤndlichen Worte ſo lan- ge umzuſezzen, und zu wechſeln, bis ſie deut- lich werden; der Unterſchied dieſer beiden Ausdruͤcke iſt eben dadurch geſchwaͤcht, daß wir

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/117>, abgerufen am 21.11.2024.