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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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Zeiten des Volks, auch Propheten und Rich-
ter waren, ihre sinnreiche Weltweisheit, Tu-
gend- und Lobsprüche einkleideten.

Alle Morgenländer haben an diesen geerb-
ten Mährchen einen sehr reichen Ueberfluß,
wie alle Reisebeschreibungen zeigen; ihre Dich-
ter bedienen sich desselben also so sorgfältig,
als Homer und Virgil sich bekanntermaßen
auf alte Sagen und Ueberlieferungen gründe-
ten. Die Juden, ein sinnliches Volk, hatten
auch keinen Mangel daran, und warum soll-
ten sich ihre Dichter nicht dieser unschuldigen
Kunst bedienen, um über sie zu siegen? Ein
großer Glaube über Träume, Zaubereien, Er-
sch[e]i[n]ungen und Besizzungen ist dem Dichter
so vortheilhaft, als er dem Weltweisen ein
Dorn im Auge ist; und mit welcher Mühe
suchte GOtt diesen in Judäa auszurotten?
Beschwörungen, Zaubereien durch Schlangen;
diese Meinung hatten sie mit den Morgen-
ländischen Völkern gemein, wie die öftern
Stellen ihrer Dichter bezeigen. Aus Aegy-
pten hatten sie einen ganzen Schatz dieserNa-
tionalmeinungen herübergeholt: von denen
Michaelis einige, wie aus einem Herkuleum,
gezogen hat.

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Zeiten des Volks, auch Propheten und Rich-
ter waren, ihre ſinnreiche Weltweisheit, Tu-
gend- und Lobſpruͤche einkleideten.

Alle Morgenlaͤnder haben an dieſen geerb-
ten Maͤhrchen einen ſehr reichen Ueberfluß,
wie alle Reiſebeſchreibungen zeigen; ihre Dich-
ter bedienen ſich deſſelben alſo ſo ſorgfaͤltig,
als Homer und Virgil ſich bekanntermaßen
auf alte Sagen und Ueberlieferungen gruͤnde-
ten. Die Juden, ein ſinnliches Volk, hatten
auch keinen Mangel daran, und warum ſoll-
ten ſich ihre Dichter nicht dieſer unſchuldigen
Kunſt bedienen, um uͤber ſie zu ſiegen? Ein
großer Glaube uͤber Traͤume, Zaubereien, Er-
ſch[e]i[n]ungen und Beſizzungen iſt dem Dichter
ſo vortheilhaft, als er dem Weltweiſen ein
Dorn im Auge iſt; und mit welcher Muͤhe
ſuchte GOtt dieſen in Judaͤa auszurotten?
Beſchwoͤrungen, Zaubereien durch Schlangen;
dieſe Meinung hatten ſie mit den Morgen-
laͤndiſchen Voͤlkern gemein, wie die oͤftern
Stellen ihrer Dichter bezeigen. Aus Aegy-
pten hatten ſie einen ganzen Schatz dieſerNa-
tionalmeinungen heruͤbergeholt: von denen
Michaelis einige, wie aus einem Herkuleum,
gezogen hat.

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[217/0049] Zeiten des Volks, auch Propheten und Rich- ter waren, ihre ſinnreiche Weltweisheit, Tu- gend- und Lobſpruͤche einkleideten. Alle Morgenlaͤnder haben an dieſen geerb- ten Maͤhrchen einen ſehr reichen Ueberfluß, wie alle Reiſebeſchreibungen zeigen; ihre Dich- ter bedienen ſich deſſelben alſo ſo ſorgfaͤltig, als Homer und Virgil ſich bekanntermaßen auf alte Sagen und Ueberlieferungen gruͤnde- ten. Die Juden, ein ſinnliches Volk, hatten auch keinen Mangel daran, und warum ſoll- ten ſich ihre Dichter nicht dieſer unſchuldigen Kunſt bedienen, um uͤber ſie zu ſiegen? Ein großer Glaube uͤber Traͤume, Zaubereien, Er- ſcheinungen und Beſizzungen iſt dem Dichter ſo vortheilhaft, als er dem Weltweiſen ein Dorn im Auge iſt; und mit welcher Muͤhe ſuchte GOtt dieſen in Judaͤa auszurotten? Beſchwoͤrungen, Zaubereien durch Schlangen; dieſe Meinung hatten ſie mit den Morgen- laͤndiſchen Voͤlkern gemein, wie die oͤftern Stellen ihrer Dichter bezeigen. Aus Aegy- pten hatten ſie einen ganzen Schatz dieſerNa- tionalmeinungen heruͤbergeholt: von denen Michaelis einige, wie aus einem Herkuleum, gezogen hat. Fuͤr P 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/49>, abgerufen am 21.11.2024.