Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

gen Schriften; bei schlechten hätten sie es
mehr thun sollen und können.

Die entgegen gesezte Straße ist, Stellen
herausnehmen, um an ihnen zum Ritter zu
werden: Oerter zu suchen, wo man seine
Lieblingsgedanken ausschüttet. Dies unter-
hält; aber oft auf Kosten des Autors. War-
um gab aber der Nordische Aufseher z. E.
Blößen, wo man ihn angreifen konnte? So
wird der Vertheidiger, aber nicht der Angeta-
stete, fragen.

Man muß mehr Kunstrichter über Fehler,
als Schönheiten seyn! insonderheit Schrift-
steller auszubilden. So lange man nicht
Werke liefert, bei denen es selbst schwer war,
zwei Fehler zu erwischen, bei denen wenigstens
die Schönheiten überwiegend sind, bei denen
kein falscher Geschmack zu merken oder zu
fürchten ist: so kann der Kunstrichter immer
sich die leichtere Arbeit wählen, Fehler zu be-
merken: eine Arbeit, die ihm überdem Wür-
de gibt. -- Und das selbst bei guten Ver-
fassern! Wo viele Schönheiten sind, muß ich
auch die kleinsten Fehler rügen: die Schön-
heiten findet das Genie selbst, und der Kunst-

rich-

gen Schriften; bei ſchlechten haͤtten ſie es
mehr thun ſollen und koͤnnen.

Die entgegen geſezte Straße iſt, Stellen
herausnehmen, um an ihnen zum Ritter zu
werden: Oerter zu ſuchen, wo man ſeine
Lieblingsgedanken ausſchuͤttet. Dies unter-
haͤlt; aber oft auf Koſten des Autors. War-
um gab aber der Nordiſche Aufſeher z. E.
Bloͤßen, wo man ihn angreifen konnte? So
wird der Vertheidiger, aber nicht der Angeta-
ſtete, fragen.

Man muß mehr Kunſtrichter uͤber Fehler,
als Schoͤnheiten ſeyn! inſonderheit Schrift-
ſteller auszubilden. So lange man nicht
Werke liefert, bei denen es ſelbſt ſchwer war,
zwei Fehler zu erwiſchen, bei denen wenigſtens
die Schoͤnheiten uͤberwiegend ſind, bei denen
kein falſcher Geſchmack zu merken oder zu
fuͤrchten iſt: ſo kann der Kunſtrichter immer
ſich die leichtere Arbeit waͤhlen, Fehler zu be-
merken: eine Arbeit, die ihm uͤberdem Wuͤr-
de gibt. — Und das ſelbſt bei guten Ver-
faſſern! Wo viele Schoͤnheiten ſind, muß ich
auch die kleinſten Fehler ruͤgen: die Schoͤn-
heiten findet das Genie ſelbſt, und der Kunſt-

rich-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0027" n="195"/>
gen Schriften; bei &#x017F;chlechten ha&#x0364;tten &#x017F;ie es<lb/>
mehr thun &#x017F;ollen und ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
          <p>Die entgegen ge&#x017F;ezte Straße i&#x017F;t, Stellen<lb/>
herausnehmen, um an ihnen zum Ritter zu<lb/>
werden: Oerter zu &#x017F;uchen, wo man &#x017F;eine<lb/>
Lieblingsgedanken aus&#x017F;chu&#x0364;ttet. Dies unter-<lb/>
ha&#x0364;lt; aber oft auf Ko&#x017F;ten des Autors. War-<lb/>
um gab aber der <hi rendition="#fr">Nordi&#x017F;che Auf&#x017F;eher</hi> z. E.<lb/>
Blo&#x0364;ßen, wo man ihn angreifen konnte? So<lb/>
wird der Vertheidiger, aber nicht der Angeta-<lb/>
&#x017F;tete, fragen.</p><lb/>
          <p>Man muß mehr Kun&#x017F;trichter u&#x0364;ber Fehler,<lb/>
als Scho&#x0364;nheiten &#x017F;eyn! in&#x017F;onderheit Schrift-<lb/>
&#x017F;teller auszubilden. So lange man nicht<lb/>
Werke liefert, bei denen es &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;chwer war,<lb/>
zwei Fehler zu erwi&#x017F;chen, bei denen wenig&#x017F;tens<lb/>
die Scho&#x0364;nheiten u&#x0364;berwiegend &#x017F;ind, bei denen<lb/>
kein fal&#x017F;cher Ge&#x017F;chmack zu merken oder zu<lb/>
fu&#x0364;rchten i&#x017F;t: &#x017F;o kann der Kun&#x017F;trichter immer<lb/>
&#x017F;ich die leichtere Arbeit wa&#x0364;hlen, Fehler zu be-<lb/>
merken: eine Arbeit, die ihm u&#x0364;berdem Wu&#x0364;r-<lb/>
de gibt. &#x2014; Und das &#x017F;elb&#x017F;t bei guten Ver-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ern! Wo viele Scho&#x0364;nheiten &#x017F;ind, muß ich<lb/>
auch die klein&#x017F;ten Fehler ru&#x0364;gen: die Scho&#x0364;n-<lb/>
heiten findet das Genie &#x017F;elb&#x017F;t, und der Kun&#x017F;t-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">rich-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[195/0027] gen Schriften; bei ſchlechten haͤtten ſie es mehr thun ſollen und koͤnnen. Die entgegen geſezte Straße iſt, Stellen herausnehmen, um an ihnen zum Ritter zu werden: Oerter zu ſuchen, wo man ſeine Lieblingsgedanken ausſchuͤttet. Dies unter- haͤlt; aber oft auf Koſten des Autors. War- um gab aber der Nordiſche Aufſeher z. E. Bloͤßen, wo man ihn angreifen konnte? So wird der Vertheidiger, aber nicht der Angeta- ſtete, fragen. Man muß mehr Kunſtrichter uͤber Fehler, als Schoͤnheiten ſeyn! inſonderheit Schrift- ſteller auszubilden. So lange man nicht Werke liefert, bei denen es ſelbſt ſchwer war, zwei Fehler zu erwiſchen, bei denen wenigſtens die Schoͤnheiten uͤberwiegend ſind, bei denen kein falſcher Geſchmack zu merken oder zu fuͤrchten iſt: ſo kann der Kunſtrichter immer ſich die leichtere Arbeit waͤhlen, Fehler zu be- merken: eine Arbeit, die ihm uͤberdem Wuͤr- de gibt. — Und das ſelbſt bei guten Ver- faſſern! Wo viele Schoͤnheiten ſind, muß ich auch die kleinſten Fehler ruͤgen: die Schoͤn- heiten findet das Genie ſelbſt, und der Kunſt- rich-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/27
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/27>, abgerufen am 24.11.2024.