Wüste. Wo ist die Dithyrambenspra- che? Die unsre ist viel zu Philosophisch alt- klug, zu eingeschränkt unter Gesezze, und zu abgemessen, als daß sie jene neue, unregel- mäßige, vielsagende Sprache wagen könnte. Wo die Dithyrambischen Sylbenmaaße? da unsre Sprache und alle neuere selbst zum He- xameter, noch minder zu den Sylbenmaaßen des Pindars und der Chöre vieltrittig gnug ist, und gegen Griechifche Dithyramben völ- lig ungelenkig lassen müste. Wo sind denn bei uns die Tänze, die trunknen Bacchus- sprünge, an Frendenfesten? Der Dithyrambe gehörte ja so wohl zur Mimischen als Lyrischen Poesie: und wie könnten wir ihn also nach- machen, da wir die hohe Tanzkunst der Alten nicht haben, nicht kennen, und so gar selbst bei allen Nachrichten der Alten, nicht durch- gehends begreifen können -- Und von ihr bekam er doch Geist und Leben.
Aber wenn wir ihn alsdenn blos als eine Sache der Nachahmung betrachteten, bei der wir zwar nicht eben die Ursache, Zwecke, und Hülfsmittel des Originals hätten, aber doch eine neue, eine bessere Art der Gedichte
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Wuͤſte. Wo iſt die Dithyrambenſpra- che? Die unſre iſt viel zu Philoſophiſch alt- klug, zu eingeſchraͤnkt unter Geſezze, und zu abgemeſſen, als daß ſie jene neue, unregel- maͤßige, vielſagende Sprache wagen koͤnnte. Wo die Dithyrambiſchen Sylbenmaaße? da unſre Sprache und alle neuere ſelbſt zum He- xameter, noch minder zu den Sylbenmaaßen des Pindars und der Choͤre vieltrittig gnug iſt, und gegen Griechifche Dithyramben voͤl- lig ungelenkig laſſen muͤſte. Wo ſind denn bei uns die Taͤnze, die trunknen Bacchus- ſpruͤnge, an Frendenfeſten? Der Dithyrambe gehoͤrte ja ſo wohl zur Mimiſchen als Lyriſchen Poeſie: und wie koͤnnten wir ihn alſo nach- machen, da wir die hohe Tanzkunſt der Alten nicht haben, nicht kennen, und ſo gar ſelbſt bei allen Nachrichten der Alten, nicht durch- gehends begreifen koͤnnen — Und von ihr bekam er doch Geiſt und Leben.
Aber wenn wir ihn alsdenn blos als eine Sache der Nachahmung betrachteten, bei der wir zwar nicht eben die Urſache, Zwecke, und Huͤlfsmittel des Originals haͤtten, aber doch eine neue, eine beſſere Art der Gedichte
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Wuͤſte. Wo iſt die Dithyrambenſpra-
che? Die unſre iſt viel zu Philoſophiſch alt-
klug, zu eingeſchraͤnkt unter Geſezze, und zu
abgemeſſen, als daß ſie jene neue, unregel-
maͤßige, vielſagende Sprache wagen koͤnnte.
Wo die Dithyrambiſchen Sylbenmaaße? da
unſre Sprache und alle neuere ſelbſt zum He-
xameter, noch minder zu den Sylbenmaaßen
des Pindars und der Choͤre vieltrittig gnug
iſt, und gegen Griechifche Dithyramben voͤl-
lig ungelenkig laſſen muͤſte. Wo ſind denn
bei uns die Taͤnze, die trunknen Bacchus-
ſpruͤnge, an Frendenfeſten? Der Dithyrambe
gehoͤrte ja ſo wohl zur Mimiſchen als Lyriſchen
Poeſie: und wie koͤnnten wir ihn alſo nach-
machen, da wir die hohe Tanzkunſt der Alten
nicht haben, nicht kennen, und ſo gar ſelbſt
bei allen Nachrichten der Alten, nicht durch-
gehends begreifen koͤnnen — Und von
ihr bekam er doch Geiſt und Leben.
Aber wenn wir ihn alsdenn blos als eine
Sache der Nachahmung betrachteten, bei
der wir zwar nicht eben die Urſache, Zwecke,
und Huͤlfsmittel des Originals haͤtten, aber
doch eine neue, eine beſſere Art der Gedichte
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/145>, abgerufen am 16.02.2025.
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