"nigstens, wie sie haben entstehen können? -- "Sollte es nicht daher kommen, weil uns die "Sprachen so natürlich geworden, daß wir "nicht ohne dieselben denken können? So "wenig die Augen in ihrem natürlichen Zu- "stande, das Werkzeug des Sehens, die Licht- "stralen deutlich wahrnehmen: eben so we- "nig mag vielleicht die Seele das Werkzeug "ihrer Gedanken, die Sprache, bis auf ihren Ur- "sprung untersuchen können -- Dies mag uns "so lange zur Entschuldigung dienen, bis ein "glücklicheres Genie die Entschuldigungen un- "nöthig macht*. --"
Jch bin nicht dies glückliche Genie, sondern sezze, da ich von einer ähnlichen, nicht aber der- selben Aufgabe schreiben will, diese Entschuldi- gungen zum Voraus, weil ich ihrer nöthig habe.
Jm 13. Theil der Litt. Briefe** kommen Bemerkungen vor, die ich gleichsam meinem Geist entwandt glaubte: sie gefielen mir aber nicht so, daß ich nicht eine sorgfältigere Ent- wikkelung, Auseinandersezzung und Anwendung für möglich gehalten hätte Mein Aufsazz, wo ich diese Materie weitläuftiger behandelt
hatte,
* Litter. Br. Th. 4. p. 366.
** p. 100.
„nigſtens, wie ſie haben entſtehen koͤnnen? — „Sollte es nicht daher kommen, weil uns die „Sprachen ſo natuͤrlich geworden, daß wir „nicht ohne dieſelben denken koͤnnen? So „wenig die Augen in ihrem natuͤrlichen Zu- „ſtande, das Werkzeug des Sehens, die Licht- „ſtralen deutlich wahrnehmen: eben ſo we- „nig mag vielleicht die Seele das Werkzeug „ihrer Gedanken, die Sprache, bis auf ihren Ur- „ſprung unterſuchen koͤnnen — Dies mag uns „ſo lange zur Entſchuldigung dienen, bis ein „gluͤcklicheres Genie die Entſchuldigungen un- „noͤthig macht*. —„
Jch bin nicht dies gluͤckliche Genie, ſondern ſezze, da ich von einer aͤhnlichen, nicht aber der- ſelben Aufgabe ſchreiben will, dieſe Entſchuldi- gungen zum Voraus, weil ich ihrer noͤthig habe.
Jm 13. Theil der Litt. Briefe** kommen Bemerkungen vor, die ich gleichſam meinem Geiſt entwandt glaubte: ſie gefielen mir aber nicht ſo, daß ich nicht eine ſorgfaͤltigere Ent- wikkelung, Auseinanderſezzung und Anwendung fuͤr moͤglich gehalten haͤtte Mein Aufſazz, wo ich dieſe Materie weitlaͤuftiger behandelt
hatte,
* Litter. Br. Th. 4. p. 366.
** p. 100.
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„nigſtens, wie ſie haben entſtehen koͤnnen? —
„Sollte es nicht daher kommen, weil uns die
„Sprachen ſo natuͤrlich geworden, daß wir
„nicht ohne dieſelben denken koͤnnen? So
„wenig die Augen in ihrem natuͤrlichen Zu-
„ſtande, das Werkzeug des Sehens, die Licht-
„ſtralen deutlich wahrnehmen: eben ſo we-
„nig mag vielleicht die Seele das Werkzeug
„ihrer Gedanken, die Sprache, bis auf ihren Ur-
„ſprung unterſuchen koͤnnen — Dies mag uns
„ſo lange zur Entſchuldigung dienen, bis ein
„gluͤcklicheres Genie die Entſchuldigungen un-
„noͤthig macht *. —„
Jch bin nicht dies gluͤckliche Genie, ſondern
ſezze, da ich von einer aͤhnlichen, nicht aber der-
ſelben Aufgabe ſchreiben will, dieſe Entſchuldi-
gungen zum Voraus, weil ich ihrer noͤthig habe.
Jm 13. Theil der Litt. Briefe ** kommen
Bemerkungen vor, die ich gleichſam meinem
Geiſt entwandt glaubte: ſie gefielen mir aber
nicht ſo, daß ich nicht eine ſorgfaͤltigere Ent-
wikkelung, Auseinanderſezzung und Anwendung
fuͤr moͤglich gehalten haͤtte Mein Aufſazz,
wo ich dieſe Materie weitlaͤuftiger behandelt
hatte,
* Litter. Br. Th. 4. p. 366.
** p. 100.
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/28>, abgerufen am 27.07.2024.
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