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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Zweites Wäldchen.
te Unterschied. Die Würde der Epopee fällt
auf das Ganze des Gedichts, auf jede einzel-
ne, insonderheit jede Nebenperson nur in dem
Maaße, in welchem sie zum Ganzen beiträgt:

so muß gravitas epici carminis berechnet werden.

Nun hat, und wer weiß das nicht? die Pro-
prietät, die Eigenheit des epischen Werks im Gan-
zen nichts weniger, als das Lächerliche, zum Haupt-
tone; aber kann nicht ein Belachenswerthes in ei-
nem Theile zur Congruenz des Ganzen gehören,
und ein Thersites, ein Dämon mit zur Harmonie
des Werks einstimmen? Nichts ist hier so sonder-
bar, als eine Scene heraus zu heben; ohne zu be-
trachten, wie sie mitten im Verfolge sich ausnimmt,
oder, besser zu sagen, sich fortdränget, sich aus an-
dern entwickelt, und andere vorbringet, so, daß sie
nichts, als eine Tonreihe zur Symphonie des Gan-
zen bleibet. Ein Thersites an sich sey, was er wol-
le, was ist er zum Ganzen der Jliade? Was ist er
in seinem Verfolge? Mischen sich in ihm Homers
Successionen der Auftritte, daß ihre Farben schnei-
dend werden, daß der poetische Maler sie nicht ver-
schmolzen, daß sie in ihrer Succession nicht Ton hal-
ten, daß das Auge des Lesers keine Ruhestatt finde,
nicht weiter gehen wolle? Wer kann das sagen?

Drittens endlich: die sicherste Kritik eines Ge-
dichts ist die Reihe meiner Empfindungen; und in
Absicht auf diese ist das Lächerliche sehr verschieden.

Ent-
D 2

Zweites Waͤldchen.
te Unterſchied. Die Wuͤrde der Epopee faͤllt
auf das Ganze des Gedichts, auf jede einzel-
ne, inſonderheit jede Nebenperſon nur in dem
Maaße, in welchem ſie zum Ganzen beitraͤgt:

ſo muß gravitas epici carminis berechnet werden.

Nun hat, und wer weiß das nicht? die Pro-
prietaͤt, die Eigenheit des epiſchen Werks im Gan-
zen nichts weniger, als das Laͤcherliche, zum Haupt-
tone; aber kann nicht ein Belachenswerthes in ei-
nem Theile zur Congruenz des Ganzen gehoͤren,
und ein Therſites, ein Daͤmon mit zur Harmonie
des Werks einſtimmen? Nichts iſt hier ſo ſonder-
bar, als eine Scene heraus zu heben; ohne zu be-
trachten, wie ſie mitten im Verfolge ſich ausnimmt,
oder, beſſer zu ſagen, ſich fortdraͤnget, ſich aus an-
dern entwickelt, und andere vorbringet, ſo, daß ſie
nichts, als eine Tonreihe zur Symphonie des Gan-
zen bleibet. Ein Therſites an ſich ſey, was er wol-
le, was iſt er zum Ganzen der Jliade? Was iſt er
in ſeinem Verfolge? Miſchen ſich in ihm Homers
Succeſſionen der Auftritte, daß ihre Farben ſchnei-
dend werden, daß der poetiſche Maler ſie nicht ver-
ſchmolzen, daß ſie in ihrer Succeſſion nicht Ton hal-
ten, daß das Auge des Leſers keine Ruheſtatt finde,
nicht weiter gehen wolle? Wer kann das ſagen?

Drittens endlich: die ſicherſte Kritik eines Ge-
dichts iſt die Reihe meiner Empfindungen; und in
Abſicht auf dieſe iſt das Laͤcherliche ſehr verſchieden.

Ent-
D 2
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[51/0057] Zweites Waͤldchen. te Unterſchied. Die Wuͤrde der Epopee faͤllt auf das Ganze des Gedichts, auf jede einzel- ne, inſonderheit jede Nebenperſon nur in dem Maaße, in welchem ſie zum Ganzen beitraͤgt: ſo muß gravitas epici carminis berechnet werden. Nun hat, und wer weiß das nicht? die Pro- prietaͤt, die Eigenheit des epiſchen Werks im Gan- zen nichts weniger, als das Laͤcherliche, zum Haupt- tone; aber kann nicht ein Belachenswerthes in ei- nem Theile zur Congruenz des Ganzen gehoͤren, und ein Therſites, ein Daͤmon mit zur Harmonie des Werks einſtimmen? Nichts iſt hier ſo ſonder- bar, als eine Scene heraus zu heben; ohne zu be- trachten, wie ſie mitten im Verfolge ſich ausnimmt, oder, beſſer zu ſagen, ſich fortdraͤnget, ſich aus an- dern entwickelt, und andere vorbringet, ſo, daß ſie nichts, als eine Tonreihe zur Symphonie des Gan- zen bleibet. Ein Therſites an ſich ſey, was er wol- le, was iſt er zum Ganzen der Jliade? Was iſt er in ſeinem Verfolge? Miſchen ſich in ihm Homers Succeſſionen der Auftritte, daß ihre Farben ſchnei- dend werden, daß der poetiſche Maler ſie nicht ver- ſchmolzen, daß ſie in ihrer Succeſſion nicht Ton hal- ten, daß das Auge des Leſers keine Ruheſtatt finde, nicht weiter gehen wolle? Wer kann das ſagen? Drittens endlich: die ſicherſte Kritik eines Ge- dichts iſt die Reihe meiner Empfindungen; und in Abſicht auf dieſe iſt das Laͤcherliche ſehr verſchieden. Ent- D 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/57>, abgerufen am 23.11.2024.