Hier also an unserm so unanständig lächerlichen Orte a) -- was war geschehen? Jupiter erscheint mit aller Ehrfurcht der Götter im Olymp, und die gebieterische Juno fängt über seine geheimen Rath- schläge zu zanken an. Der oberste der Götter ant- wortet zuerst groß und unabhängig, und als Juno fortfährt und seine Rathschläge offenbaret, zornig und mächtig drohend. Verstummt vor Furcht, gebeugt in ihrem Herzen sitzt die hohe Juno da, und alle Himmlischen im Hause des Gottes versammlet, erseufzen. Eine schauderhafte Stille, eine unru- hige stumme Scene, wie vor einem Ungewitter, herrscht im Olymp!
Wer soll sie brechen? Soll Homer seinen Ge- sang schließen, und den Leser in einer bangen Be- sorgniß lassen, ob nicht auf dies Schaudervolle Verstummen nachher wirklich ein Ungewitter erfol- get? ob nicht etwa die gebietende Juno den Streit erneuret, und also der mächtige Zevs seine Drohun- gen erfüllet? Unwürdige Besorgniß! der Hoheit des epischen Gedichts, und dem Zwecke der Homeri- schen Handlung entgegen! Homer, der nirgend seine Handlung abbricht, sie mit jedem Worte wei- ter fortführt, thäte doppelt Unrecht, in seinem ersten Gesange, bei der ersten Versammlung der Alles lenkenden Götter uns nicht das Ende ihres Raths wissen zu lassen, und noch ärger uns auf sein ganzes
Gedicht
a)Iliad. a v. 595.
Zweites Waͤldchen.
Hier alſo an unſerm ſo unanſtaͤndig laͤcherlichen Orte a) — was war geſchehen? Jupiter erſcheint mit aller Ehrfurcht der Goͤtter im Olymp, und die gebieteriſche Juno faͤngt uͤber ſeine geheimen Rath- ſchlaͤge zu zanken an. Der oberſte der Goͤtter ant- wortet zuerſt groß und unabhaͤngig, und als Juno fortfaͤhrt und ſeine Rathſchlaͤge offenbaret, zornig und maͤchtig drohend. Verſtummt vor Furcht, gebeugt in ihrem Herzen ſitzt die hohe Juno da, und alle Himmliſchen im Hauſe des Gottes verſammlet, erſeufzen. Eine ſchauderhafte Stille, eine unru- hige ſtumme Scene, wie vor einem Ungewitter, herrſcht im Olymp!
Wer ſoll ſie brechen? Soll Homer ſeinen Ge- ſang ſchließen, und den Leſer in einer bangen Be- ſorgniß laſſen, ob nicht auf dies Schaudervolle Verſtummen nachher wirklich ein Ungewitter erfol- get? ob nicht etwa die gebietende Juno den Streit erneuret, und alſo der maͤchtige Zevs ſeine Drohun- gen erfuͤllet? Unwuͤrdige Beſorgniß! der Hoheit des epiſchen Gedichts, und dem Zwecke der Homeri- ſchen Handlung entgegen! Homer, der nirgend ſeine Handlung abbricht, ſie mit jedem Worte wei- ter fortfuͤhrt, thaͤte doppelt Unrecht, in ſeinem erſten Geſange, bei der erſten Verſammlung der Alles lenkenden Goͤtter uns nicht das Ende ihres Raths wiſſen zu laſſen, und noch aͤrger uns auf ſein ganzes
Gedicht
a)Iliad. ἁ v. 595.
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Zweites Waͤldchen.
Hier alſo an unſerm ſo unanſtaͤndig laͤcherlichen
Orte a) — was war geſchehen? Jupiter erſcheint
mit aller Ehrfurcht der Goͤtter im Olymp, und die
gebieteriſche Juno faͤngt uͤber ſeine geheimen Rath-
ſchlaͤge zu zanken an. Der oberſte der Goͤtter ant-
wortet zuerſt groß und unabhaͤngig, und als Juno
fortfaͤhrt und ſeine Rathſchlaͤge offenbaret, zornig
und maͤchtig drohend. Verſtummt vor Furcht,
gebeugt in ihrem Herzen ſitzt die hohe Juno da, und
alle Himmliſchen im Hauſe des Gottes verſammlet,
erſeufzen. Eine ſchauderhafte Stille, eine unru-
hige ſtumme Scene, wie vor einem Ungewitter,
herrſcht im Olymp!
Wer ſoll ſie brechen? Soll Homer ſeinen Ge-
ſang ſchließen, und den Leſer in einer bangen Be-
ſorgniß laſſen, ob nicht auf dies Schaudervolle
Verſtummen nachher wirklich ein Ungewitter erfol-
get? ob nicht etwa die gebietende Juno den Streit
erneuret, und alſo der maͤchtige Zevs ſeine Drohun-
gen erfuͤllet? Unwuͤrdige Beſorgniß! der Hoheit
des epiſchen Gedichts, und dem Zwecke der Homeri-
ſchen Handlung entgegen! Homer, der nirgend
ſeine Handlung abbricht, ſie mit jedem Worte wei-
ter fortfuͤhrt, thaͤte doppelt Unrecht, in ſeinem erſten
Geſange, bei der erſten Verſammlung der Alles
lenkenden Goͤtter uns nicht das Ende ihres Raths
wiſſen zu laſſen, und noch aͤrger uns auf ſein ganzes
Gedicht
a) Iliad. ἁ v. 595.
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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/33>, abgerufen am 16.07.2024.
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