Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Kritische Wälder. keiner meiner Horazianer aus Horaz Latein oderrömische Alterthümer lernen solle. Lieber komme ich jedem zuvor: lieber prävenire ich ihn unver- merkt, mit der Welt, in der ich ihn führen will, mit der Sprache, in der der Dichter sprechen wird: un- vermerkt suche ich ihm die ganze Situation unter- zuschieben, ihm den Pfad von Gedanken und Bil- dern von weitem zu zeigen, wo wir den Dichter finden werden. Jch fange an: und ohne Bemer- kung einzelner Schönheiten, schöner Ausdrücke, gewählter Phrases, jage ich seine Ode hinab; ich fliege mit ihm, oder schwimme den Strom seines Gesanges hinunter. Unlieb, wenn mich mein Zu- hörer störte, unlieb, wenn sein Auge an Kleinig- keiten hangen bliebe: denn so würde der ganze Zweck des Dichters, die Art von Täuschung gestört, in die mich sein Gesang setzen soll. Jch bin dar- inn gesetzt, ich bin zu Ende: das Ganze der Ode, Ein Haupteindruck, in wenigen, aber mächtigen Zügen, lebt in meiner Seele: die Situation der ho- razischen Ode steht mir vor Augen, und -- mein Buch ist zu. Nicht vom Papiere, aus dem tiefen Grunde meiner Seele hole ich diese wenigen, mäch- tigen Eindrücke hervor: mir ist die Ode ein Gan- zes der Empfindung geworden. Dies bewahre ich: die wenigen zusammenfließenden Züge des Bildes bleiben in meiner Seele: dies ist Energie, die mir die Muse successiv bereitet, sie will ich um keine
Kritiſche Waͤlder. keiner meiner Horazianer aus Horaz Latein oderroͤmiſche Alterthuͤmer lernen ſolle. Lieber komme ich jedem zuvor: lieber praͤvenire ich ihn unver- merkt, mit der Welt, in der ich ihn fuͤhren will, mit der Sprache, in der der Dichter ſprechen wird: un- vermerkt ſuche ich ihm die ganze Situation unter- zuſchieben, ihm den Pfad von Gedanken und Bil- dern von weitem zu zeigen, wo wir den Dichter finden werden. Jch fange an: und ohne Bemer- kung einzelner Schoͤnheiten, ſchoͤner Ausdruͤcke, gewaͤhlter Phraſes, jage ich ſeine Ode hinab; ich fliege mit ihm, oder ſchwimme den Strom ſeines Geſanges hinunter. Unlieb, wenn mich mein Zu- hoͤrer ſtoͤrte, unlieb, wenn ſein Auge an Kleinig- keiten hangen bliebe: denn ſo wuͤrde der ganze Zweck des Dichters, die Art von Taͤuſchung geſtoͤrt, in die mich ſein Geſang ſetzen ſoll. Jch bin dar- inn geſetzt, ich bin zu Ende: das Ganze der Ode, Ein Haupteindruck, in wenigen, aber maͤchtigen Zuͤgen, lebt in meiner Seele: die Situation der ho- raziſchen Ode ſteht mir vor Augen, und — mein Buch iſt zu. Nicht vom Papiere, aus dem tiefen Grunde meiner Seele hole ich dieſe wenigen, maͤch- tigen Eindruͤcke hervor: mir iſt die Ode ein Gan- zes der Empfindung geworden. Dies bewahre ich: die wenigen zuſammenfließenden Zuͤge des Bildes bleiben in meiner Seele: dies iſt Energie, die mir die Muſe ſucceſſiv bereitet, ſie will ich um keine
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Kritiſche Waͤlder.
keiner meiner Horazianer aus Horaz Latein oder
roͤmiſche Alterthuͤmer lernen ſolle. Lieber komme
ich jedem zuvor: lieber praͤvenire ich ihn unver-
merkt, mit der Welt, in der ich ihn fuͤhren will, mit
der Sprache, in der der Dichter ſprechen wird: un-
vermerkt ſuche ich ihm die ganze Situation unter-
zuſchieben, ihm den Pfad von Gedanken und Bil-
dern von weitem zu zeigen, wo wir den Dichter
finden werden. Jch fange an: und ohne Bemer-
kung einzelner Schoͤnheiten, ſchoͤner Ausdruͤcke,
gewaͤhlter Phraſes, jage ich ſeine Ode hinab; ich
fliege mit ihm, oder ſchwimme den Strom ſeines
Geſanges hinunter. Unlieb, wenn mich mein Zu-
hoͤrer ſtoͤrte, unlieb, wenn ſein Auge an Kleinig-
keiten hangen bliebe: denn ſo wuͤrde der ganze
Zweck des Dichters, die Art von Taͤuſchung geſtoͤrt,
in die mich ſein Geſang ſetzen ſoll. Jch bin dar-
inn geſetzt, ich bin zu Ende: das Ganze der Ode,
Ein Haupteindruck, in wenigen, aber maͤchtigen
Zuͤgen, lebt in meiner Seele: die Situation der ho-
raziſchen Ode ſteht mir vor Augen, und — mein
Buch iſt zu. Nicht vom Papiere, aus dem tiefen
Grunde meiner Seele hole ich dieſe wenigen, maͤch-
tigen Eindruͤcke hervor: mir iſt die Ode ein Gan-
zes der Empfindung geworden. Dies bewahre
ich: die wenigen zuſammenfließenden Zuͤge des
Bildes bleiben in meiner Seele: dies iſt Energie,
die mir die Muſe ſucceſſiv bereitet, ſie will ich um
keine
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