selbst gelten. Eine Liebe ohne Schaam ist nicht Lie- be mehr: sie ist Ekel. Nichts ekelhafters in der Welt, als eine förmliche Exposition der Liebe.
Wenn dies in der Natur, bei einer so noth- wendigen, und für das menschliche Geschlecht un- entbehrlichen Neigung, Statt findet: wie weit mehr in Worten! in Worten an die Welt und Nach- welt! in Worten, zum Vergnügen! Alle Empfin- dungen des Vergnügens zerfließen bei einem scham- losen Bilde; sie verwandeln sich in Ekel! Homer, in seiner Beschreibuug der zweiten Brautnacht a) zwischen Jupiter und Juno, mag alle Annehmlich- keiten, die sich vor Augen legen lassen, zeigen: die hohe Gestalt, den Schmuck, die Pracht der Kö- niginn des Himmels: alle Gratien und Reize im Gürtel der Venus: alle Empfindungen der Liebe, und des Verlangens im Herzen Jupiters -- aber nun? decke sie die himmlische Wolke! Da liegt sie in den Armen des höchsten Gottes, und unter ihnen blühen Kräuter und Blumen aus dem Schooße der Erde hervor; das himmlische Paar selbst aber um- schattete die goldne Wolke, daß selbst die allsehende Sonne sie nicht erblicke! -- So dichtet Homer; und ich sehe keinen Weg, weiter zu dichten, als die artigen Zweideutigkeiten, von denen er nichts weiß -- --
Zu-
a)Iliad. Ks' v. 346.
Kritiſche Waͤlder.
ſelbſt gelten. Eine Liebe ohne Schaam iſt nicht Lie- be mehr: ſie iſt Ekel. Nichts ekelhafters in der Welt, als eine foͤrmliche Expoſition der Liebe.
Wenn dies in der Natur, bei einer ſo noth- wendigen, und fuͤr das menſchliche Geſchlecht un- entbehrlichen Neigung, Statt findet: wie weit mehr in Worten! in Worten an die Welt und Nach- welt! in Worten, zum Vergnuͤgen! Alle Empfin- dungen des Vergnuͤgens zerfließen bei einem ſcham- loſen Bilde; ſie verwandeln ſich in Ekel! Homer, in ſeiner Beſchreibuug der zweiten Brautnacht a) zwiſchen Jupiter und Juno, mag alle Annehmlich- keiten, die ſich vor Augen legen laſſen, zeigen: die hohe Geſtalt, den Schmuck, die Pracht der Koͤ- niginn des Himmels: alle Gratien und Reize im Guͤrtel der Venus: alle Empfindungen der Liebe, und des Verlangens im Herzen Jupiters — aber nun? decke ſie die himmliſche Wolke! Da liegt ſie in den Armen des hoͤchſten Gottes, und unter ihnen bluͤhen Kraͤuter und Blumen aus dem Schooße der Erde hervor; das himmliſche Paar ſelbſt aber um- ſchattete die goldne Wolke, daß ſelbſt die allſehende Sonne ſie nicht erblicke! — So dichtet Homer; und ich ſehe keinen Weg, weiter zu dichten, als die artigen Zweideutigkeiten, von denen er nichts weiß — —
Zu-
a)Iliad. Ξ’ v. 346.
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Kritiſche Waͤlder.
ſelbſt gelten. Eine Liebe ohne Schaam iſt nicht Lie-
be mehr: ſie iſt Ekel. Nichts ekelhafters in der
Welt, als eine foͤrmliche Expoſition der Liebe.
Wenn dies in der Natur, bei einer ſo noth-
wendigen, und fuͤr das menſchliche Geſchlecht un-
entbehrlichen Neigung, Statt findet: wie weit mehr
in Worten! in Worten an die Welt und Nach-
welt! in Worten, zum Vergnuͤgen! Alle Empfin-
dungen des Vergnuͤgens zerfließen bei einem ſcham-
loſen Bilde; ſie verwandeln ſich in Ekel! Homer,
in ſeiner Beſchreibuug der zweiten Brautnacht a)
zwiſchen Jupiter und Juno, mag alle Annehmlich-
keiten, die ſich vor Augen legen laſſen, zeigen: die
hohe Geſtalt, den Schmuck, die Pracht der Koͤ-
niginn des Himmels: alle Gratien und Reize im
Guͤrtel der Venus: alle Empfindungen der Liebe,
und des Verlangens im Herzen Jupiters — aber
nun? decke ſie die himmliſche Wolke! Da liegt ſie
in den Armen des hoͤchſten Gottes, und unter ihnen
bluͤhen Kraͤuter und Blumen aus dem Schooße der
Erde hervor; das himmliſche Paar ſelbſt aber um-
ſchattete die goldne Wolke, daß ſelbſt die allſehende
Sonne ſie nicht erblicke! — So dichtet Homer;
und ich ſehe keinen Weg, weiter zu dichten, als die
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weiß — —
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a) Iliad. Ξ’ v. 346.
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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/154>, abgerufen am 16.02.2025.
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