Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Zweites Wäldchen. Jn keiner Aeußerung ist die Schaam wohl würde J 4
Zweites Waͤldchen. Jn keiner Aeußerung iſt die Schaam wohl wuͤrde J 4
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Zweites Waͤldchen.
Jn keiner Aeußerung iſt die Schaam wohl
menſchlicher und in unſerm Weſen profunder, als
wenn ſie ein Schleier wird, die Neigungen der Liebe
zu bedecken. Rouſſeau mag unterſuchen, wenn der
Menſch aus einem vierfuͤßigen Thiere ein aufrecht-
gehender Menſch geworden; ſeitdem er ein auf-
rechtgehender Menſch iſt, ſo ſcheint dem Triebe der
Liebe ein andrer Trieb zum Geſellſchafter gegeben
zu ſeyn, der heißt Schaam; inſonderheit beim
ſchwaͤchern Geſchlechte. Selbſt an Thieren will
man etwas Aehnliches mit ihm bemerkt haben; wo
aber auch nicht, ſo iſt doch ſelbſt bei menſchlichen
Thieren, den Wilden, die natuͤrlichſte Handlung des
Geſchlechts nicht ohne dieſe Huͤlle; und man koͤnnte
vielleicht Wahrſcheinlichkeiten angeben, warum ſie
darohne nicht ſeyn dorfte? Vielleicht iſt bei Men-
ſchen der erſte Trieb weniger Jnſtinkt, weniger
Naturzug, als bei Thieren; daß er alſo durch den
Reiz eines Triumphs, durch kleine zu uͤberſteigende
Schwierigkeiten, durch die begleitende Schaam
verſtaͤrkt werden mußte. Vielleicht war, inſon-
derheit beim ſchwaͤchern Geſchlechte, dieſer
Schleier noͤthig, weil in ihm, wie im Schleier
der Venus bei Homer, die Liebe, der Reiz, und
das Verlangen wohneten, weil er ein Band ſeyn
ſollte, Jupiter ſo an den Willen der Juno zu knuͤ-
pfen, als Juno ſonſt, wenn es auf Gewalt ankam,
an der guͤldnen Kette Jupiters hieng: vielleicht
wuͤrde
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