Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite


Analytischer Jnhalt.


1. Es ist unbillig, Leßing auf Winkelmanns Kosten zu loben.
Unterschied beider Schriftsteller in Materie, Denkart
und Styl.
2. Sophokles Philoktet leidet nicht mit brüllendem Geschrei.
Die Helden Homers fallen nicht mit Geschrei zu Boden.
Schreien kann nicht ein nothwendiger Charakterzug ei-
ner Helden- und menschlichen Empfindung seyn.
3. Die Empfindbarkeit der Griechen zu sanften Thränen
zeigt sich ganz anders. Sie ist auch den Griechen nicht
allein und ausschliessend eigen. Proben und Charakter
der alten hersischen Gesänge.
4. Eine philosophische Geschichte der Elegischen Dichtkunst
über Völker und Zeiten, oder Gründe der alten Helden-
menschlichkeit, aus ihrer Empfindung für Vaterland,
Geschlecht, heroische Freundschaft, einfältige Liebe und
die Menschlichkeit des Lebens hergeleitet, nicht aber als
ob sie einen Schlag mehr empfunden, und besser geschrien
hätten, wie wir. Empfindbarkeit der homerischen Hel-
den zeigt sich würdiger.
5. Sophokles macht in seinem Philoktet gewiß nicht Ge-
schrei zum Hauptmittel der Rührung. Bessere Eindrü-
cke des griechischen Drama. Ob körperlicher Schmerz
je die Hauptidee eines Trauerspiels werden könne? Daß
ers bei Sophokles nicht sey.
6. Die
A 2


Analytiſcher Jnhalt.


1. Es iſt unbillig, Leßing auf Winkelmanns Koſten zu loben.
Unterſchied beider Schriftſteller in Materie, Denkart
und Styl.
2. Sophokles Philoktet leidet nicht mit bruͤllendem Geſchrei.
Die Helden Homers fallen nicht mit Geſchrei zu Boden.
Schreien kann nicht ein nothwendiger Charakterzug ei-
ner Helden- und menſchlichen Empfindung ſeyn.
3. Die Empfindbarkeit der Griechen zu ſanften Thraͤnen
zeigt ſich ganz anders. Sie iſt auch den Griechen nicht
allein und ausſchlieſſend eigen. Proben und Charakter
der alten herſiſchen Geſaͤnge.
4. Eine philoſophiſche Geſchichte der Elegiſchen Dichtkunſt
uͤber Voͤlker und Zeiten, oder Gruͤnde der alten Helden-
menſchlichkeit, aus ihrer Empfindung fuͤr Vaterland,
Geſchlecht, heroiſche Freundſchaft, einfaͤltige Liebe und
die Menſchlichkeit des Lebens hergeleitet, nicht aber als
ob ſie einen Schlag mehr empfunden, und beſſer geſchrien
haͤtten, wie wir. Empfindbarkeit der homeriſchen Hel-
den zeigt ſich wuͤrdiger.
5. Sophokles macht in ſeinem Philoktet gewiß nicht Ge-
ſchrei zum Hauptmittel der Ruͤhrung. Beſſere Eindruͤ-
cke des griechiſchen Drama. Ob koͤrperlicher Schmerz
je die Hauptidee eines Trauerſpiels werden koͤnne? Daß
ers bei Sophokles nicht ſey.
6. Die
A 2
<TEI>
  <text>
    <front>
      <pb facs="#f0009" n="[3]"/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Analyti&#x017F;cher Jnhalt.</hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <list>
          <item>1. Es i&#x017F;t unbillig, Leßing auf Winkelmanns Ko&#x017F;ten zu loben.<lb/>
Unter&#x017F;chied beider Schrift&#x017F;teller in Materie, Denkart<lb/>
und Styl.</item><lb/>
          <item>2. Sophokles Philoktet leidet nicht mit bru&#x0364;llendem Ge&#x017F;chrei.<lb/>
Die Helden Homers fallen nicht mit Ge&#x017F;chrei zu Boden.<lb/>
Schreien kann nicht ein nothwendiger Charakterzug ei-<lb/>
ner Helden- und men&#x017F;chlichen Empfindung &#x017F;eyn.</item><lb/>
          <item>3. Die Empfindbarkeit der Griechen zu &#x017F;anften Thra&#x0364;nen<lb/>
zeigt &#x017F;ich ganz anders. Sie i&#x017F;t auch den Griechen nicht<lb/>
allein und aus&#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;end eigen. Proben und Charakter<lb/>
der alten her&#x017F;i&#x017F;chen Ge&#x017F;a&#x0364;nge.</item><lb/>
          <item>4. Eine philo&#x017F;ophi&#x017F;che Ge&#x017F;chichte der Elegi&#x017F;chen Dichtkun&#x017F;t<lb/>
u&#x0364;ber Vo&#x0364;lker und Zeiten, oder Gru&#x0364;nde der alten Helden-<lb/>
men&#x017F;chlichkeit, aus ihrer Empfindung fu&#x0364;r Vaterland,<lb/>
Ge&#x017F;chlecht, heroi&#x017F;che Freund&#x017F;chaft, einfa&#x0364;ltige Liebe und<lb/>
die Men&#x017F;chlichkeit des Lebens hergeleitet, nicht aber als<lb/>
ob &#x017F;ie einen Schlag mehr empfunden, und be&#x017F;&#x017F;er ge&#x017F;chrien<lb/>
ha&#x0364;tten, wie wir. Empfindbarkeit der homeri&#x017F;chen Hel-<lb/>
den zeigt &#x017F;ich wu&#x0364;rdiger.</item><lb/>
          <item>5. Sophokles macht in &#x017F;einem Philoktet gewiß nicht Ge-<lb/>
&#x017F;chrei zum Hauptmittel der Ru&#x0364;hrung. Be&#x017F;&#x017F;ere Eindru&#x0364;-<lb/>
cke des griechi&#x017F;chen Drama. Ob ko&#x0364;rperlicher Schmerz<lb/>
je die Hauptidee eines Trauer&#x017F;piels werden ko&#x0364;nne? Daß<lb/>
ers bei Sophokles nicht &#x017F;ey.</item>
        </list><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">A 2</fw>
        <fw place="bottom" type="catch">6. Die</fw><lb/>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[[3]/0009] Analytiſcher Jnhalt. 1. Es iſt unbillig, Leßing auf Winkelmanns Koſten zu loben. Unterſchied beider Schriftſteller in Materie, Denkart und Styl. 2. Sophokles Philoktet leidet nicht mit bruͤllendem Geſchrei. Die Helden Homers fallen nicht mit Geſchrei zu Boden. Schreien kann nicht ein nothwendiger Charakterzug ei- ner Helden- und menſchlichen Empfindung ſeyn. 3. Die Empfindbarkeit der Griechen zu ſanften Thraͤnen zeigt ſich ganz anders. Sie iſt auch den Griechen nicht allein und ausſchlieſſend eigen. Proben und Charakter der alten herſiſchen Geſaͤnge. 4. Eine philoſophiſche Geſchichte der Elegiſchen Dichtkunſt uͤber Voͤlker und Zeiten, oder Gruͤnde der alten Helden- menſchlichkeit, aus ihrer Empfindung fuͤr Vaterland, Geſchlecht, heroiſche Freundſchaft, einfaͤltige Liebe und die Menſchlichkeit des Lebens hergeleitet, nicht aber als ob ſie einen Schlag mehr empfunden, und beſſer geſchrien haͤtten, wie wir. Empfindbarkeit der homeriſchen Hel- den zeigt ſich wuͤrdiger. 5. Sophokles macht in ſeinem Philoktet gewiß nicht Ge- ſchrei zum Hauptmittel der Ruͤhrung. Beſſere Eindruͤ- cke des griechiſchen Drama. Ob koͤrperlicher Schmerz je die Hauptidee eines Trauerſpiels werden koͤnne? Daß ers bei Sophokles nicht ſey. 6. Die A 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/9
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/9>, abgerufen am 23.11.2024.