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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Kritische Wälder.
sollten wissen, daß Medusen diese Bildung eigen-
thümlich, daß sie eine Reizende gewesen, die Ne-
ptun zur Liebe beweget, und darüber von der jung-
fräulichen Minerve verwandelt worden a). Nun soll-
te sie der Künstler bilden: zwo Gestalten lagen vor
ihm und er wählte -- die schöne vor ihrer Ver-
wandlung: aber um sie als Meduse zu bezeichnen,
flocht er Schlangen in ihre Haare.

Um diese Schlangen zu erklären, weiß ich da kei-
nen andern Rückweg, als mich "auf das besondere Ge-
"fühl der Griechen und Römer für die Schlangen"
zu beruffen b)? ein besonderer Appetit, der -- hier
aber nichts erklärt. Eine schöne Meduse ohne
Schlangen wäre nicht mehr kenntlich, nicht mehr
Meduse -- ein bloß schönes Gesicht gewesen; so
und aus keinem Schlangenappetit mußte also der
Künstler diesen Charakterzug brauchen. Und warum
sollte ers nicht? Wann er die Schlangen in die
Haare versteckt, so können sie zieren; und was an
ihnen hervorblickt, ist das was häßliches? Schrecklich
und nicht häßlich; aber dieß Schreckliche gemäßigt,
mit einem schönen Antlitze contrastirt, ist angenehm;
es erweckt den Begriff des Außerordentlichen, von

der
a) Pausanias erzält ihre Geschichte noch bequemer für die
Kunst v. Corinth. c. 21.
b) Klotz Gesch. der Münz. p. 47. "Es ist wahr, daß un-
"ser Gefühl über diesen Punkt eben so verschieden
"von dem Gefühl der Griechen und Römer ist, als von
"der Empfindung des Kanibalen" u. s. w.

Kritiſche Waͤlder.
ſollten wiſſen, daß Meduſen dieſe Bildung eigen-
thuͤmlich, daß ſie eine Reizende geweſen, die Ne-
ptun zur Liebe beweget, und daruͤber von der jung-
fraͤulichen Minerve verwandelt worden a). Nun ſoll-
te ſie der Kuͤnſtler bilden: zwo Geſtalten lagen vor
ihm und er waͤhlte — die ſchoͤne vor ihrer Ver-
wandlung: aber um ſie als Meduſe zu bezeichnen,
flocht er Schlangen in ihre Haare.

Um dieſe Schlangen zu erklaͤren, weiß ich da kei-
nen andern Ruͤckweg, als mich „auf das beſondere Ge-
„fuͤhl der Griechen und Roͤmer fuͤr die Schlangen„
zu beruffen b)? ein beſonderer Appetit, der — hier
aber nichts erklaͤrt. Eine ſchoͤne Meduſe ohne
Schlangen waͤre nicht mehr kenntlich, nicht mehr
Meduſe — ein bloß ſchoͤnes Geſicht geweſen; ſo
und aus keinem Schlangenappetit mußte alſo der
Kuͤnſtler dieſen Charakterzug brauchen. Und warum
ſollte ers nicht? Wann er die Schlangen in die
Haare verſteckt, ſo koͤnnen ſie zieren; und was an
ihnen hervorblickt, iſt das was haͤßliches? Schrecklich
und nicht haͤßlich; aber dieß Schreckliche gemaͤßigt,
mit einem ſchoͤnen Antlitze contraſtirt, iſt angenehm;
es erweckt den Begriff des Außerordentlichen, von

der
a) Pauſanias erzaͤlt ihre Geſchichte noch bequemer fuͤr die
Kunſt v. Corinth. c. 21.
b) Klotz Geſch. der Muͤnz. p. 47. „Es iſt wahr, daß un-
„ſer Gefuͤhl uͤber dieſen Punkt eben ſo verſchieden
„von dem Gefuͤhl der Griechen und Roͤmer iſt, als von
„der Empfindung des Kanibalen„ u. ſ. w.
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[82/0088] Kritiſche Waͤlder. ſollten wiſſen, daß Meduſen dieſe Bildung eigen- thuͤmlich, daß ſie eine Reizende geweſen, die Ne- ptun zur Liebe beweget, und daruͤber von der jung- fraͤulichen Minerve verwandelt worden a). Nun ſoll- te ſie der Kuͤnſtler bilden: zwo Geſtalten lagen vor ihm und er waͤhlte — die ſchoͤne vor ihrer Ver- wandlung: aber um ſie als Meduſe zu bezeichnen, flocht er Schlangen in ihre Haare. Um dieſe Schlangen zu erklaͤren, weiß ich da kei- nen andern Ruͤckweg, als mich „auf das beſondere Ge- „fuͤhl der Griechen und Roͤmer fuͤr die Schlangen„ zu beruffen b)? ein beſonderer Appetit, der — hier aber nichts erklaͤrt. Eine ſchoͤne Meduſe ohne Schlangen waͤre nicht mehr kenntlich, nicht mehr Meduſe — ein bloß ſchoͤnes Geſicht geweſen; ſo und aus keinem Schlangenappetit mußte alſo der Kuͤnſtler dieſen Charakterzug brauchen. Und warum ſollte ers nicht? Wann er die Schlangen in die Haare verſteckt, ſo koͤnnen ſie zieren; und was an ihnen hervorblickt, iſt das was haͤßliches? Schrecklich und nicht haͤßlich; aber dieß Schreckliche gemaͤßigt, mit einem ſchoͤnen Antlitze contraſtirt, iſt angenehm; es erweckt den Begriff des Außerordentlichen, von der a) Pauſanias erzaͤlt ihre Geſchichte noch bequemer fuͤr die Kunſt v. Corinth. c. 21. b) Klotz Geſch. der Muͤnz. p. 47. „Es iſt wahr, daß un- „ſer Gefuͤhl uͤber dieſen Punkt eben ſo verſchieden „von dem Gefuͤhl der Griechen und Roͤmer iſt, als von „der Empfindung des Kanibalen„ u. ſ. w.

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/88>, abgerufen am 27.11.2024.