Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
denfroher Haß gegen Thersites ihnen nicht in die-
ser Strafe das: Nicht zu viel! das Viel mehr
verdient! hätte fühlen lassen. Der erste Strich
vom Lächerlichen, das Unschädliche, ist also ziemlich
zweifelhaft: und der andre, der Contrast zwischen
Vollkommenheiten
und Unvollkommenheiten,
erliegt bei Thersites unter dem Eindrucke des Un-
vollkommenen,
des an sich selbst Häßlichen.
Auch wer ein Grieche werden kann, wird Thersites
in diesem Lichte sehen.

Nur weil Homer keine einzige Person seiner
Welt zum Jdeal des höchst Vollkommnen oder Un-
vollkommnen machet: so vertreibet er auch hier die
übermäßige Farbe des Häßlichen etwas, daß sein
Thersites nicht vor allen Figuren seines Gedichts
vorrufe. Hat er kein Gutes, so hat er doch noch
das Gute an sich, daß er auf sich selbst einen Werth
setzt, daß er, seine Beredsamkeit, seine Klugheit und
Ehrlichkeit mag so leidig seyn, wie sie will, sich doch
diese Häßlichkeit nicht zutrauet: so wird der sonst
ganz und gar Verachtens-Hassenswürdige doch et-
was leidlicher; es geht auf ein Lächerliches hinaus.
Nur ist dieses Letzte so sehr Nebenzug, es liegt so we-
nig in seinem Charakter, daß es sich, als ein frem-
der Zug, nur vorübergehend, nur hinten nach einmi-
schet. Homer läßt seine Häßlichkeit auf etwas Unschäd-
liches auslaufen, um sein ganz Häßliches, ganz
Verabscheuungswürdiges
zu lindern; nicht aber

umge-

Kritiſche Waͤlder.
denfroher Haß gegen Therſites ihnen nicht in die-
ſer Strafe das: Nicht zu viel! das Viel mehr
verdient! haͤtte fuͤhlen laſſen. Der erſte Strich
vom Laͤcherlichen, das Unſchaͤdliche, iſt alſo ziemlich
zweifelhaft: und der andre, der Contraſt zwiſchen
Vollkommenheiten
und Unvollkommenheiten,
erliegt bei Therſites unter dem Eindrucke des Un-
vollkommenen,
des an ſich ſelbſt Haͤßlichen.
Auch wer ein Grieche werden kann, wird Therſites
in dieſem Lichte ſehen.

Nur weil Homer keine einzige Perſon ſeiner
Welt zum Jdeal des hoͤchſt Vollkommnen oder Un-
vollkommnen machet: ſo vertreibet er auch hier die
uͤbermaͤßige Farbe des Haͤßlichen etwas, daß ſein
Therſites nicht vor allen Figuren ſeines Gedichts
vorrufe. Hat er kein Gutes, ſo hat er doch noch
das Gute an ſich, daß er auf ſich ſelbſt einen Werth
ſetzt, daß er, ſeine Beredſamkeit, ſeine Klugheit und
Ehrlichkeit mag ſo leidig ſeyn, wie ſie will, ſich doch
dieſe Haͤßlichkeit nicht zutrauet: ſo wird der ſonſt
ganz und gar Verachtens-Haſſenswuͤrdige doch et-
was leidlicher; es geht auf ein Laͤcherliches hinaus.
Nur iſt dieſes Letzte ſo ſehr Nebenzug, es liegt ſo we-
nig in ſeinem Charakter, daß es ſich, als ein frem-
der Zug, nur voruͤbergehend, nur hinten nach einmi-
ſchet. Homer laͤßt ſeine Haͤßlichkeit auf etwas Unſchaͤd-
liches auslaufen, um ſein ganz Haͤßliches, ganz
Verabſcheuungswuͤrdiges
zu lindern; nicht aber

umge-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0256" n="250"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
denfroher Haß gegen Ther&#x017F;ites ihnen nicht in die-<lb/>
&#x017F;er Strafe das: <hi rendition="#fr">Nicht zu viel!</hi> das Viel mehr<lb/>
verdient! ha&#x0364;tte fu&#x0364;hlen la&#x017F;&#x017F;en. Der er&#x017F;te Strich<lb/>
vom La&#x0364;cherlichen, das <hi rendition="#fr">Un&#x017F;cha&#x0364;dliche,</hi> i&#x017F;t al&#x017F;o ziemlich<lb/>
zweifelhaft: und der andre, der Contra&#x017F;t <hi rendition="#fr">zwi&#x017F;chen<lb/>
Vollkommenheiten</hi> und <hi rendition="#fr">Unvollkommenheiten,</hi><lb/>
erliegt bei Ther&#x017F;ites unter dem Eindrucke des <hi rendition="#fr">Un-<lb/>
vollkommenen,</hi> des an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#fr">Ha&#x0364;ßlichen.</hi><lb/>
Auch wer ein Grieche werden kann, wird Ther&#x017F;ites<lb/>
in die&#x017F;em Lichte &#x017F;ehen.</p><lb/>
          <p>Nur weil Homer keine einzige Per&#x017F;on &#x017F;einer<lb/>
Welt zum Jdeal des ho&#x0364;ch&#x017F;t Vollkommnen oder Un-<lb/>
vollkommnen machet: &#x017F;o vertreibet er auch hier die<lb/>
u&#x0364;berma&#x0364;ßige Farbe des Ha&#x0364;ßlichen <hi rendition="#fr">etwas, daß</hi> &#x017F;ein<lb/>
Ther&#x017F;ites nicht vor allen Figuren &#x017F;eines Gedichts<lb/>
vorrufe. Hat er kein Gutes, &#x017F;o hat er doch noch<lb/>
das Gute an &#x017F;ich, daß er auf &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t einen Werth<lb/>
&#x017F;etzt, daß er, &#x017F;eine Bered&#x017F;amkeit, &#x017F;eine Klugheit und<lb/>
Ehrlichkeit mag &#x017F;o leidig &#x017F;eyn, wie &#x017F;ie will, &#x017F;ich doch<lb/>
die&#x017F;e Ha&#x0364;ßlichkeit nicht zutrauet: &#x017F;o wird der &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
ganz und gar Verachtens-Ha&#x017F;&#x017F;enswu&#x0364;rdige doch et-<lb/>
was leidlicher; es geht auf ein La&#x0364;cherliches hinaus.<lb/>
Nur i&#x017F;t die&#x017F;es Letzte &#x017F;o &#x017F;ehr Nebenzug, es liegt &#x017F;o we-<lb/>
nig in &#x017F;einem Charakter, daß es &#x017F;ich, als ein frem-<lb/>
der Zug, nur voru&#x0364;bergehend, nur hinten nach einmi-<lb/>
&#x017F;chet. Homer la&#x0364;ßt &#x017F;eine Ha&#x0364;ßlichkeit auf etwas Un&#x017F;cha&#x0364;d-<lb/>
liches auslaufen, um &#x017F;ein <hi rendition="#fr">ganz Ha&#x0364;ßliches, ganz<lb/>
Verab&#x017F;cheuungswu&#x0364;rdiges</hi> zu lindern; nicht aber<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">umge-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[250/0256] Kritiſche Waͤlder. denfroher Haß gegen Therſites ihnen nicht in die- ſer Strafe das: Nicht zu viel! das Viel mehr verdient! haͤtte fuͤhlen laſſen. Der erſte Strich vom Laͤcherlichen, das Unſchaͤdliche, iſt alſo ziemlich zweifelhaft: und der andre, der Contraſt zwiſchen Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten, erliegt bei Therſites unter dem Eindrucke des Un- vollkommenen, des an ſich ſelbſt Haͤßlichen. Auch wer ein Grieche werden kann, wird Therſites in dieſem Lichte ſehen. Nur weil Homer keine einzige Perſon ſeiner Welt zum Jdeal des hoͤchſt Vollkommnen oder Un- vollkommnen machet: ſo vertreibet er auch hier die uͤbermaͤßige Farbe des Haͤßlichen etwas, daß ſein Therſites nicht vor allen Figuren ſeines Gedichts vorrufe. Hat er kein Gutes, ſo hat er doch noch das Gute an ſich, daß er auf ſich ſelbſt einen Werth ſetzt, daß er, ſeine Beredſamkeit, ſeine Klugheit und Ehrlichkeit mag ſo leidig ſeyn, wie ſie will, ſich doch dieſe Haͤßlichkeit nicht zutrauet: ſo wird der ſonſt ganz und gar Verachtens-Haſſenswuͤrdige doch et- was leidlicher; es geht auf ein Laͤcherliches hinaus. Nur iſt dieſes Letzte ſo ſehr Nebenzug, es liegt ſo we- nig in ſeinem Charakter, daß es ſich, als ein frem- der Zug, nur voruͤbergehend, nur hinten nach einmi- ſchet. Homer laͤßt ſeine Haͤßlichkeit auf etwas Unſchaͤd- liches auslaufen, um ſein ganz Haͤßliches, ganz Verabſcheuungswuͤrdiges zu lindern; nicht aber umge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/256
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/256>, abgerufen am 10.05.2024.