Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Wäldchen.
"aufhöret, wird sie dem Dichter brauchbar a).
Mich dünkt, Hr. L. thue einen Fehlstreich, um die
Verlegenheit zu zerstücken. Wäre die Frage: wie
kann der griechische Dichter einen Häßlichen schil-
dern, da ihn doch der griechische Künstler nicht schil-
dern mochte? so mag die Antwort gelten: die Figur
tritt uns nicht mit einmal vors Auge: in der Schil-
derung des Dichters ist sie minder widrig: sie hö-
ret von der Seite der Wirkung auf unsern Anblick
auf, häßlich zu seyn. Aber was soll das hier? Es
wird einmal eine körperliche Gestalt geschildert, suc-
cessive geschildert, da ihre Theile und Mißtheile
doch zusammen exsistiren, da sie doch in Verbindung
gedacht werden müssen, wenn der Begriff der Häß-
lichkeit aufkommen soll -- weg also, mit dem
Thersites, nach L. Grundsätzen, nicht weil er häß-
lich, sondern weil er ein Körper ist, weil er als kör-
perliche Gestalt, und doch successiv, geschildert wer-
den muß.

"Aber der Dichter kann ihn nutzen! er nutzt
"ihn zu b) -- --" so kann er doch also Formen,
körperliche Schilderungen nutzen? und wenn er sie
nutzen kann, sind sie ihm erlaubt? worüber streiten
wir denn? Kann er häßliche Formen nutzen, wie
weit eher schöne? und sind ihm jene erlaubt, wie
weit eher diese? So kann er doch also, wenn er
Energie in sie legt, auch körperliche Gegenstände

schil-
a) p. 232.
b) Laok. p. 232.
Q 2

Erſtes Waͤldchen.
„aufhoͤret, wird ſie dem Dichter brauchbar a).
Mich duͤnkt, Hr. L. thue einen Fehlſtreich, um die
Verlegenheit zu zerſtuͤcken. Waͤre die Frage: wie
kann der griechiſche Dichter einen Haͤßlichen ſchil-
dern, da ihn doch der griechiſche Kuͤnſtler nicht ſchil-
dern mochte? ſo mag die Antwort gelten: die Figur
tritt uns nicht mit einmal vors Auge: in der Schil-
derung des Dichters iſt ſie minder widrig: ſie hoͤ-
ret von der Seite der Wirkung auf unſern Anblick
auf, haͤßlich zu ſeyn. Aber was ſoll das hier? Es
wird einmal eine koͤrperliche Geſtalt geſchildert, ſuc-
ceſſive geſchildert, da ihre Theile und Mißtheile
doch zuſammen exſiſtiren, da ſie doch in Verbindung
gedacht werden muͤſſen, wenn der Begriff der Haͤß-
lichkeit aufkommen ſoll — weg alſo, mit dem
Therſites, nach L. Grundſaͤtzen, nicht weil er haͤß-
lich, ſondern weil er ein Koͤrper iſt, weil er als koͤr-
perliche Geſtalt, und doch ſucceſſiv, geſchildert wer-
den muß.

„Aber der Dichter kann ihn nutzen! er nutzt
„ihn zu b) — —„ ſo kann er doch alſo Formen,
koͤrperliche Schilderungen nutzen? und wenn er ſie
nutzen kann, ſind ſie ihm erlaubt? woruͤber ſtreiten
wir denn? Kann er haͤßliche Formen nutzen, wie
weit eher ſchoͤne? und ſind ihm jene erlaubt, wie
weit eher dieſe? So kann er doch alſo, wenn er
Energie in ſie legt, auch koͤrperliche Gegenſtaͤnde

ſchil-
a) p. 232.
b) Laok. p. 232.
Q 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0249" n="243"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Er&#x017F;tes Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
&#x201E;aufho&#x0364;ret, wird &#x017F;ie dem Dichter brauchbar <note place="foot" n="a)"><hi rendition="#aq">p.</hi> 232.</note>.<lb/>
Mich du&#x0364;nkt, Hr. L. thue einen Fehl&#x017F;treich, um die<lb/>
Verlegenheit zu zer&#x017F;tu&#x0364;cken. Wa&#x0364;re die Frage: wie<lb/>
kann der griechi&#x017F;che Dichter einen Ha&#x0364;ßlichen &#x017F;chil-<lb/>
dern, da ihn doch der griechi&#x017F;che Ku&#x0364;n&#x017F;tler nicht &#x017F;chil-<lb/>
dern mochte? &#x017F;o mag die Antwort gelten: die Figur<lb/>
tritt uns nicht mit einmal vors Auge: in der Schil-<lb/>
derung des Dichters i&#x017F;t &#x017F;ie minder widrig: &#x017F;ie ho&#x0364;-<lb/>
ret von der Seite der Wirkung auf un&#x017F;ern Anblick<lb/>
auf, ha&#x0364;ßlich zu &#x017F;eyn. Aber was &#x017F;oll das hier? Es<lb/>
wird einmal eine ko&#x0364;rperliche Ge&#x017F;talt ge&#x017F;childert, &#x017F;uc-<lb/>
ce&#x017F;&#x017F;ive ge&#x017F;childert, da ihre Theile und Mißtheile<lb/>
doch zu&#x017F;ammen ex&#x017F;i&#x017F;tiren, da &#x017F;ie doch in Verbindung<lb/>
gedacht werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, wenn der Begriff der Ha&#x0364;ß-<lb/>
lichkeit aufkommen &#x017F;oll &#x2014; weg al&#x017F;o, mit dem<lb/>
Ther&#x017F;ites, nach L. Grund&#x017F;a&#x0364;tzen, nicht weil er ha&#x0364;ß-<lb/>
lich, &#x017F;ondern weil er ein Ko&#x0364;rper i&#x017F;t, weil er als ko&#x0364;r-<lb/>
perliche Ge&#x017F;talt, und doch &#x017F;ucce&#x017F;&#x017F;iv, ge&#x017F;childert wer-<lb/>
den muß.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Aber der Dichter kann ihn nutzen! er nutzt<lb/>
&#x201E;ihn zu <note place="foot" n="b)">Laok. <hi rendition="#aq">p.</hi> 232.</note> &#x2014; &#x2014;&#x201E; &#x017F;o kann er doch al&#x017F;o Formen,<lb/>
ko&#x0364;rperliche Schilderungen nutzen? und wenn er &#x017F;ie<lb/>
nutzen kann, &#x017F;ind &#x017F;ie ihm erlaubt? woru&#x0364;ber &#x017F;treiten<lb/>
wir denn? Kann er ha&#x0364;ßliche Formen nutzen, wie<lb/>
weit eher &#x017F;cho&#x0364;ne? und &#x017F;ind ihm jene erlaubt, wie<lb/>
weit eher die&#x017F;e? So kann er doch al&#x017F;o, wenn er<lb/>
Energie in &#x017F;ie legt, auch ko&#x0364;rperliche Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Q 2</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;chil-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[243/0249] Erſtes Waͤldchen. „aufhoͤret, wird ſie dem Dichter brauchbar a). Mich duͤnkt, Hr. L. thue einen Fehlſtreich, um die Verlegenheit zu zerſtuͤcken. Waͤre die Frage: wie kann der griechiſche Dichter einen Haͤßlichen ſchil- dern, da ihn doch der griechiſche Kuͤnſtler nicht ſchil- dern mochte? ſo mag die Antwort gelten: die Figur tritt uns nicht mit einmal vors Auge: in der Schil- derung des Dichters iſt ſie minder widrig: ſie hoͤ- ret von der Seite der Wirkung auf unſern Anblick auf, haͤßlich zu ſeyn. Aber was ſoll das hier? Es wird einmal eine koͤrperliche Geſtalt geſchildert, ſuc- ceſſive geſchildert, da ihre Theile und Mißtheile doch zuſammen exſiſtiren, da ſie doch in Verbindung gedacht werden muͤſſen, wenn der Begriff der Haͤß- lichkeit aufkommen ſoll — weg alſo, mit dem Therſites, nach L. Grundſaͤtzen, nicht weil er haͤß- lich, ſondern weil er ein Koͤrper iſt, weil er als koͤr- perliche Geſtalt, und doch ſucceſſiv, geſchildert wer- den muß. „Aber der Dichter kann ihn nutzen! er nutzt „ihn zu b) — —„ ſo kann er doch alſo Formen, koͤrperliche Schilderungen nutzen? und wenn er ſie nutzen kann, ſind ſie ihm erlaubt? woruͤber ſtreiten wir denn? Kann er haͤßliche Formen nutzen, wie weit eher ſchoͤne? und ſind ihm jene erlaubt, wie weit eher dieſe? So kann er doch alſo, wenn er Energie in ſie legt, auch koͤrperliche Gegenſtaͤnde ſchil- a) p. 232. b) Laok. p. 232. Q 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/249
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/249>, abgerufen am 13.05.2024.