Keines von beiden, allein genommen, ist ihr ganzes Wesen. Nicht die Energie, das Musikali- sche in ihr; denn dies kann nicht Statt finden, wenn nicht das Sinnliche ihrer Vorstellungen, das sie der Seele vormalet, vorausgesetzt wird. Nicht aber das Malerische in ihr; denn sie wirkt energisch, eben in dem Nacheinander bauet sie den Begriff vom sinnlich vollkommnen Ganzen in die Seele; nur bei- des zusammen genommen, kann ich sagen, das Wesen der Poesie ist Kraft, die aus dem Raum, (Gegen- stände, die sie sinnlich macht) in der Zeit (durch ei- ne Folge vieler Theile zu Einem poetischen Ganzen) wirkt: kurz also sinnlich vollkommene Rede.
Nach diesen Voraussetzungen wollen wir zu Hrn. Lessing zurück. Bei ihm ist der vornehmste Ge- genstand der Poesie Handlungen; nur aber Er kann aus seinem Begriffe der Succession diesen Begriff ausfinden; ich gestehe es gerne, ich nicht.
"Gegenstände, die auf einander, oder deren "Theile auf einander folgen, sind Handlungen." a) Wie? ich lasse so viel ich will auf einander folgen, jedes soll ein Körper, ein todten Anblick seyn; ver- möge der Succession ist keines noch Handlung. Jch sehe die Zeit fliehen, jeden Augenblick den andern jagen -- sehe ich damit Handlung? Verschiedene Auftritte der Natur kommen mir vor Augen: ein- zeln: todte: einander nachfolgend: sehe ich Hand-
lung?
a) Laok. p. 154.
Erſtes Waͤldchen.
Keines von beiden, allein genommen, iſt ihr ganzes Weſen. Nicht die Energie, das Muſikali- ſche in ihr; denn dies kann nicht Statt finden, wenn nicht das Sinnliche ihrer Vorſtellungen, das ſie der Seele vormalet, vorausgeſetzt wird. Nicht aber das Maleriſche in ihr; denn ſie wirkt energiſch, eben in dem Nacheinander bauet ſie den Begriff vom ſinnlich vollkommnen Ganzen in die Seele; nur bei- des zuſammen genommen, kann ich ſagen, das Weſen der Poeſie iſt Kraft, die aus dem Raum, (Gegen- ſtaͤnde, die ſie ſinnlich macht) in der Zeit (durch ei- ne Folge vieler Theile zu Einem poetiſchen Ganzen) wirkt: kurz alſo ſinnlich vollkommene Rede.
Nach dieſen Vorausſetzungen wollen wir zu Hrn. Leſſing zuruͤck. Bei ihm iſt der vornehmſte Ge- genſtand der Poeſie Handlungen; nur aber Er kann aus ſeinem Begriffe der Succeſſion dieſen Begriff ausfinden; ich geſtehe es gerne, ich nicht.
„Gegenſtaͤnde, die auf einander, oder deren „Theile auf einander folgen, ſind Handlungen.„ a) Wie? ich laſſe ſo viel ich will auf einander folgen, jedes ſoll ein Koͤrper, ein todten Anblick ſeyn; ver- moͤge der Succeſſion iſt keines noch Handlung. Jch ſehe die Zeit fliehen, jeden Augenblick den andern jagen — ſehe ich damit Handlung? Verſchiedene Auftritte der Natur kommen mir vor Augen: ein- zeln: todte: einander nachfolgend: ſehe ich Hand-
lung?
a) Laok. p. 154.
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Erſtes Waͤldchen.
Keines von beiden, allein genommen, iſt ihr
ganzes Weſen. Nicht die Energie, das Muſikali-
ſche in ihr; denn dies kann nicht Statt finden, wenn
nicht das Sinnliche ihrer Vorſtellungen, das ſie der
Seele vormalet, vorausgeſetzt wird. Nicht aber
das Maleriſche in ihr; denn ſie wirkt energiſch, eben
in dem Nacheinander bauet ſie den Begriff vom
ſinnlich vollkommnen Ganzen in die Seele; nur bei-
des zuſammen genommen, kann ich ſagen, das Weſen
der Poeſie iſt Kraft, die aus dem Raum, (Gegen-
ſtaͤnde, die ſie ſinnlich macht) in der Zeit (durch ei-
ne Folge vieler Theile zu Einem poetiſchen Ganzen)
wirkt: kurz alſo ſinnlich vollkommene Rede.
Nach dieſen Vorausſetzungen wollen wir zu Hrn.
Leſſing zuruͤck. Bei ihm iſt der vornehmſte Ge-
genſtand der Poeſie Handlungen; nur aber Er
kann aus ſeinem Begriffe der Succeſſion dieſen
Begriff ausfinden; ich geſtehe es gerne, ich nicht.
„Gegenſtaͤnde, die auf einander, oder deren
„Theile auf einander folgen, ſind Handlungen.„ a)
Wie? ich laſſe ſo viel ich will auf einander folgen,
jedes ſoll ein Koͤrper, ein todten Anblick ſeyn; ver-
moͤge der Succeſſion iſt keines noch Handlung. Jch
ſehe die Zeit fliehen, jeden Augenblick den andern
jagen — ſehe ich damit Handlung? Verſchiedene
Auftritte der Natur kommen mir vor Augen: ein-
zeln: todte: einander nachfolgend: ſehe ich Hand-
lung?
a) Laok. p. 154.
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/209>, abgerufen am 28.07.2024.
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