Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Wäldchen.
das Bild tieser einprägen, eindrücken, und einen Sta-
chel in der Seele zurück lassen, wie Eupolis, der Komö-
dienschreiber, von dem größten Redner Griechenlan-
des, dem Perikles, sagte. Die Manier der Komposi-
tion seiner Bilder gleicht der Sprechart des Ulysses,
dessen Worte wie die Schneeflocken flogen, das ist,
wie Plinius sagt, crebre, assidue, large. Er läßt
keinen Stein unbewegt, um zum Ziele zu treffen,
und seine Pfeile sind, wie die des Philoktets wie-
derkommend.

Menelaus wird den Räuber seiner Ehre und
seiner Gattinn vor dem Heere ansichtig, und "freuet
"sich wie ein Löwe, der auf einen großen Raub
"fällt." Nun wäre das Bild zu Ende, aber für
Homer ists noch nicht tief gnug in der Seele. Was
ist das: der auf einen großen Körper fällt?
Homer fährt wiederholend fort: wenn er einen
hörnichten Hirsch, oder eine wilde Ziege ge-
sunden.
Nun wäre uns wieder das Bild seiner
Freude zu weit vom Auge entfernet: es rollt also wei-
ter: hungrig war er: gierig verschlingt ers!
Und um den letzten Stachel in der Seele zu lassen,
von seinem gierigen Schlingen, von seiner erhaschen-
den Freude: so erweckt Homer hinter ihm eine laute
kommende Jagd: schnelle Hunde, blühende junge
Jäger verfolgen ihn. Nun ist das Bild ganz; ich
sehe den gierigen Löwen, den Raub, sein Erhaschen,
und, was der Raub sey, seine Freude, und seine

die
N

Erſtes Waͤldchen.
das Bild tieſer einpraͤgen, eindruͤcken, und einen Sta-
chel in der Seele zuruͤck laſſen, wie Eupolis, der Komoͤ-
dienſchreiber, von dem groͤßten Redner Griechenlan-
des, dem Perikles, ſagte. Die Manier der Kompoſi-
tion ſeiner Bilder gleicht der Sprechart des Ulyſſes,
deſſen Worte wie die Schneeflocken flogen, das iſt,
wie Plinius ſagt, crebre, aſſidue, large. Er laͤßt
keinen Stein unbewegt, um zum Ziele zu treffen,
und ſeine Pfeile ſind, wie die des Philoktets wie-
derkommend.

Menelaus wird den Raͤuber ſeiner Ehre und
ſeiner Gattinn vor dem Heere anſichtig, und „freuet
„ſich wie ein Loͤwe, der auf einen großen Raub
„faͤllt.„ Nun waͤre das Bild zu Ende, aber fuͤr
Homer iſts noch nicht tief gnug in der Seele. Was
iſt das: der auf einen großen Koͤrper faͤllt?
Homer faͤhrt wiederholend fort: wenn er einen
hoͤrnichten Hirſch, oder eine wilde Ziege ge-
ſunden.
Nun waͤre uns wieder das Bild ſeiner
Freude zu weit vom Auge entfernet: es rollt alſo wei-
ter: hungrig war er: gierig verſchlingt ers!
Und um den letzten Stachel in der Seele zu laſſen,
von ſeinem gierigen Schlingen, von ſeiner erhaſchen-
den Freude: ſo erweckt Homer hinter ihm eine laute
kommende Jagd: ſchnelle Hunde, bluͤhende junge
Jaͤger verfolgen ihn. Nun iſt das Bild ganz; ich
ſehe den gierigen Loͤwen, den Raub, ſein Erhaſchen,
und, was der Raub ſey, ſeine Freude, und ſeine

die
N
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0199" n="193"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Er&#x017F;tes Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
das Bild tie&#x017F;er einpra&#x0364;gen, eindru&#x0364;cken, und einen Sta-<lb/>
chel in der Seele zuru&#x0364;ck la&#x017F;&#x017F;en, wie Eupolis, der Komo&#x0364;-<lb/>
dien&#x017F;chreiber, von dem gro&#x0364;ßten Redner Griechenlan-<lb/>
des, dem Perikles, &#x017F;agte. Die Manier der Kompo&#x017F;i-<lb/>
tion &#x017F;einer Bilder gleicht der Sprechart des Uly&#x017F;&#x017F;es,<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Worte wie die Schneeflocken flogen, das i&#x017F;t,<lb/>
wie Plinius &#x017F;agt, <hi rendition="#aq">crebre, a&#x017F;&#x017F;idue, large.</hi> Er la&#x0364;ßt<lb/>
keinen Stein unbewegt, um zum Ziele zu treffen,<lb/>
und &#x017F;eine Pfeile &#x017F;ind, wie die des Philoktets <hi rendition="#fr">wie-<lb/>
derkommend.</hi></p><lb/>
          <p>Menelaus wird den Ra&#x0364;uber &#x017F;einer Ehre und<lb/>
&#x017F;einer Gattinn vor dem Heere an&#x017F;ichtig, und &#x201E;freuet<lb/>
&#x201E;&#x017F;ich wie ein Lo&#x0364;we, der auf einen großen Raub<lb/>
&#x201E;fa&#x0364;llt.&#x201E; Nun wa&#x0364;re das Bild zu Ende, aber fu&#x0364;r<lb/>
Homer i&#x017F;ts noch nicht tief gnug in der Seele. Was<lb/>
i&#x017F;t das: <hi rendition="#fr">der auf einen großen Ko&#x0364;rper fa&#x0364;llt?</hi><lb/>
Homer fa&#x0364;hrt wiederholend fort: <hi rendition="#fr">wenn er einen<lb/>
ho&#x0364;rnichten Hir&#x017F;ch, oder eine wilde Ziege ge-<lb/>
&#x017F;unden.</hi> Nun wa&#x0364;re uns wieder das Bild &#x017F;einer<lb/>
Freude zu weit vom Auge entfernet: es rollt al&#x017F;o wei-<lb/>
ter: <hi rendition="#fr">hungrig war er: gierig ver&#x017F;chlingt ers!</hi><lb/>
Und um den letzten Stachel in der Seele zu la&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
von &#x017F;einem gierigen Schlingen, von &#x017F;einer erha&#x017F;chen-<lb/>
den Freude: &#x017F;o erweckt Homer hinter ihm eine laute<lb/>
kommende Jagd: &#x017F;chnelle Hunde, blu&#x0364;hende junge<lb/>
Ja&#x0364;ger verfolgen ihn. Nun i&#x017F;t das Bild ganz; ich<lb/>
&#x017F;ehe den gierigen Lo&#x0364;wen, den Raub, &#x017F;ein Erha&#x017F;chen,<lb/>
und, was der Raub &#x017F;ey, &#x017F;eine Freude, und &#x017F;eine<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N</fw><fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[193/0199] Erſtes Waͤldchen. das Bild tieſer einpraͤgen, eindruͤcken, und einen Sta- chel in der Seele zuruͤck laſſen, wie Eupolis, der Komoͤ- dienſchreiber, von dem groͤßten Redner Griechenlan- des, dem Perikles, ſagte. Die Manier der Kompoſi- tion ſeiner Bilder gleicht der Sprechart des Ulyſſes, deſſen Worte wie die Schneeflocken flogen, das iſt, wie Plinius ſagt, crebre, aſſidue, large. Er laͤßt keinen Stein unbewegt, um zum Ziele zu treffen, und ſeine Pfeile ſind, wie die des Philoktets wie- derkommend. Menelaus wird den Raͤuber ſeiner Ehre und ſeiner Gattinn vor dem Heere anſichtig, und „freuet „ſich wie ein Loͤwe, der auf einen großen Raub „faͤllt.„ Nun waͤre das Bild zu Ende, aber fuͤr Homer iſts noch nicht tief gnug in der Seele. Was iſt das: der auf einen großen Koͤrper faͤllt? Homer faͤhrt wiederholend fort: wenn er einen hoͤrnichten Hirſch, oder eine wilde Ziege ge- ſunden. Nun waͤre uns wieder das Bild ſeiner Freude zu weit vom Auge entfernet: es rollt alſo wei- ter: hungrig war er: gierig verſchlingt ers! Und um den letzten Stachel in der Seele zu laſſen, von ſeinem gierigen Schlingen, von ſeiner erhaſchen- den Freude: ſo erweckt Homer hinter ihm eine laute kommende Jagd: ſchnelle Hunde, bluͤhende junge Jaͤger verfolgen ihn. Nun iſt das Bild ganz; ich ſehe den gierigen Loͤwen, den Raub, ſein Erhaſchen, und, was der Raub ſey, ſeine Freude, und ſeine die N

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/199
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/199>, abgerufen am 23.11.2024.