[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. Malerei dies Maaß in den Gränzen der Kunst bleibt,in der Poesie aber sich zu der Stuffe erheben kann, die für die Phantasie des Menschen die höchste ist; daß aber auch dies Höchste für die Phantasie über- schaulich, in seinem natürlichen Maaße bleibe. Geht dies Anschauliche Ganze verloren, übersteigt die Statur der Juno und Venus, auch nur in einer Li- nie, die Größe, in welcher ich mir körperliche Voll- kommenheit und Schönheit gedenke: so hat der Dichter seinen Eindruck verfehlt. Nach einmal an- genommenem Charakter, läßt sich nicht, wie er will, den Göttern eine Größe geben, die alle natürliche Maaße übersteigt; in dem natürlichen Maaße, da sich körperliche Schönheit für meine Phantasie hält, muß sich auch seine Größe der Venus und Juno halten -- -- Nun selbst die Gottheiten, deren Charakter und Homer gab uns keinen Einzigen der Götter ge- "über-
Erſtes Waͤldchen. Malerei dies Maaß in den Graͤnzen der Kunſt bleibt,in der Poeſie aber ſich zu der Stuffe erheben kann, die fuͤr die Phantaſie des Menſchen die hoͤchſte iſt; daß aber auch dies Hoͤchſte fuͤr die Phantaſie uͤber- ſchaulich, in ſeinem natuͤrlichen Maaße bleibe. Geht dies Anſchauliche Ganze verloren, uͤberſteigt die Statur der Juno und Venus, auch nur in einer Li- nie, die Groͤße, in welcher ich mir koͤrperliche Voll- kommenheit und Schoͤnheit gedenke: ſo hat der Dichter ſeinen Eindruck verfehlt. Nach einmal an- genommenem Charakter, laͤßt ſich nicht, wie er will, den Goͤttern eine Groͤße geben, die alle natuͤrliche Maaße uͤberſteigt; in dem natuͤrlichen Maaße, da ſich koͤrperliche Schoͤnheit fuͤr meine Phantaſie haͤlt, muß ſich auch ſeine Groͤße der Venus und Juno halten — — Nun ſelbſt die Gottheiten, deren Charakter und Homer gab uns keinen Einzigen der Goͤtter ge- „uͤber-
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Erſtes Waͤldchen.
Malerei dies Maaß in den Graͤnzen der Kunſt bleibt,
in der Poeſie aber ſich zu der Stuffe erheben kann,
die fuͤr die Phantaſie des Menſchen die hoͤchſte iſt;
daß aber auch dies Hoͤchſte fuͤr die Phantaſie uͤber-
ſchaulich, in ſeinem natuͤrlichen Maaße bleibe. Geht
dies Anſchauliche Ganze verloren, uͤberſteigt die
Statur der Juno und Venus, auch nur in einer Li-
nie, die Groͤße, in welcher ich mir koͤrperliche Voll-
kommenheit und Schoͤnheit gedenke: ſo hat der
Dichter ſeinen Eindruck verfehlt. Nach einmal an-
genommenem Charakter, laͤßt ſich nicht, wie er will,
den Goͤttern eine Groͤße geben, die alle natuͤrliche
Maaße uͤberſteigt; in dem natuͤrlichen Maaße, da
ſich koͤrperliche Schoͤnheit fuͤr meine Phantaſie haͤlt,
muß ſich auch ſeine Groͤße der Venus und Juno
halten — —
Nun ſelbſt die Gottheiten, deren Charakter und
Jndividualitaͤt einmal eine Aeußerung vorzuͤgli-
cher Staͤrke will: Minerva, der gewaltige Erd-
umfaſſer Neptun, und denn der maͤchtigſte aller
Goͤtter, Jupiter; Und ich wiederhole aufs neue:
daß bei ihnen die koͤrperliche Groͤße ihren Wir-
kungen nur nicht widerſpreche: nicht aber, daß
von Groͤße auf Staͤrke bei Homer der Schluß
gemacht werden doͤrfe!
Homer gab uns keinen Einzigen der Goͤtter ge-
malet: ſo auch nicht ihre, „alles natuͤrliche Maaß
„uͤber-
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