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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 10. Riga, 1797.

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Sisyphus, vom Rade Ixions erlösen, da-
zu sie eine lüsterne Politik verdammt hat?

In Romanen beweinen wir den Schmet-
terling, dem der Regen die Flügel netzt;
in Gesprächen kochen wir von großen Ge-
sinnungen über; und für jene moralische
Verfallenheit unsres Geschlechts, aus der
alles Uebel entspringt, haben wir kein
Auge. Dem Geiz, dem Stolz, unsrer
trägen Langenweile schlachten wir tausend
Opfer, die uns keine Thräne kosten. Man
hört von dreissigtausend um nichts auf
dem Platz gebliebenen Menschen, wie
man von herabgeschüttelten Maikäfern,
von einem verhagelten Fruchtfelde hört,
und wird den letzten Unfall vielleicht mehr
als jene bedauren. Oder man tadelt, was
in Peru, Ismail, Warschau geschah, in-
dem man, sobald unser Vorurtheil, unsre
Habsucht dabei ins Spiel kommt, ein

Siſyphus, vom Rade Ixions erloͤſen, da-
zu ſie eine luͤſterne Politik verdammt hat?

In Romanen beweinen wir den Schmet-
terling, dem der Regen die Fluͤgel netzt;
in Geſpraͤchen kochen wir von großen Ge-
ſinnungen uͤber; und fuͤr jene moraliſche
Verfallenheit unſres Geſchlechts, aus der
alles Uebel entſpringt, haben wir kein
Auge. Dem Geiz, dem Stolz, unſrer
traͤgen Langenweile ſchlachten wir tauſend
Opfer, die uns keine Thraͤne koſten. Man
hoͤrt von dreiſſigtauſend um nichts auf
dem Platz gebliebenen Menſchen, wie
man von herabgeſchuͤttelten Maikaͤfern,
von einem verhagelten Fruchtfelde hoͤrt,
und wird den letzten Unfall vielleicht mehr
als jene bedauren. Oder man tadelt, was
in Peru, Iſmail, Warſchau geſchah, in-
dem man, ſobald unſer Vorurtheil, unſre
Habſucht dabei ins Spiel kommt, ein

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[39/0046] Siſyphus, vom Rade Ixions erloͤſen, da- zu ſie eine luͤſterne Politik verdammt hat? In Romanen beweinen wir den Schmet- terling, dem der Regen die Fluͤgel netzt; in Geſpraͤchen kochen wir von großen Ge- ſinnungen uͤber; und fuͤr jene moraliſche Verfallenheit unſres Geſchlechts, aus der alles Uebel entſpringt, haben wir kein Auge. Dem Geiz, dem Stolz, unſrer traͤgen Langenweile ſchlachten wir tauſend Opfer, die uns keine Thraͤne koſten. Man hoͤrt von dreiſſigtauſend um nichts auf dem Platz gebliebenen Menſchen, wie man von herabgeſchuͤttelten Maikaͤfern, von einem verhagelten Fruchtfelde hoͤrt, und wird den letzten Unfall vielleicht mehr als jene bedauren. Oder man tadelt, was in Peru, Iſmail, Warſchau geſchah, in- dem man, ſobald unſer Vorurtheil, unſre Habſucht dabei ins Spiel kommt, ein

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 10. Riga, 1797, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet10_1797/46>, abgerufen am 21.11.2024.