"Wenn ich von den allweisen Einrichtun- gen der Vorsehung weniger ehrerbietig zu re- den gewohnt wäre, so würde ich keck sagen, daß ein gewisses neidisches Geschick über die Deutschen Genies, welche ihrem Vaterlan- de Ehre machen könnten, zu herrschen scheine. Wie viele derselben fallen in ihrer Blüthe da- hin! Sie sterben reich an Entwürfen, und schwanger mit Gedanken, denen zu ihrer Grö- ße nichts als die Ausführung fehlt. Sollte es aber schwer seyn, eine natürliche Ursache hievon anzugeben? Wahrhaftig, sie ist so klar, daß sie nur derjenige nicht sieht, der sie nicht sehen will. Nehmen Sie an, daß ein solches Genie in einem gewissen Stande ge- bohren wird, der, ich will nicht sagen der elendeste, sondern nur zu mittelmäßig ist, als daß er noch zu der sogenannten goldnen Mit- telmäßigkeit zu rechnen wäre. Und Sie wis- sen wohl, die Natur hat einen Wohlgefallen dran, aus eben diesem immer mehr große Gei-
11.
„Wenn ich von den allweiſen Einrichtun- gen der Vorſehung weniger ehrerbietig zu re- den gewohnt waͤre, ſo wuͤrde ich keck ſagen, daß ein gewiſſes neidiſches Geſchick uͤber die Deutſchen Genies, welche ihrem Vaterlan- de Ehre machen koͤnnten, zu herrſchen ſcheine. Wie viele derſelben fallen in ihrer Bluͤthe da- hin! Sie ſterben reich an Entwuͤrfen, und ſchwanger mit Gedanken, denen zu ihrer Groͤ- ße nichts als die Ausfuͤhrung fehlt. Sollte es aber ſchwer ſeyn, eine natuͤrliche Urſache hievon anzugeben? Wahrhaftig, ſie iſt ſo klar, daß ſie nur derjenige nicht ſieht, der ſie nicht ſehen will. Nehmen Sie an, daß ein ſolches Genie in einem gewiſſen Stande ge- bohren wird, der, ich will nicht ſagen der elendeſte, ſondern nur zu mittelmaͤßig iſt, als daß er noch zu der ſogenannten goldnen Mit- telmaͤßigkeit zu rechnen waͤre. Und Sie wiſ- ſen wohl, die Natur hat einen Wohlgefallen dran, aus eben dieſem immer mehr große Gei-
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11.
„Wenn ich von den allweiſen Einrichtun-
gen der Vorſehung weniger ehrerbietig zu re-
den gewohnt waͤre, ſo wuͤrde ich keck ſagen,
daß ein gewiſſes neidiſches Geſchick uͤber die
Deutſchen Genies, welche ihrem Vaterlan-
de Ehre machen koͤnnten, zu herrſchen ſcheine.
Wie viele derſelben fallen in ihrer Bluͤthe da-
hin! Sie ſterben reich an Entwuͤrfen, und
ſchwanger mit Gedanken, denen zu ihrer Groͤ-
ße nichts als die Ausfuͤhrung fehlt. Sollte
es aber ſchwer ſeyn, eine natuͤrliche Urſache
hievon anzugeben? Wahrhaftig, ſie iſt ſo
klar, daß ſie nur derjenige nicht ſieht, der ſie
nicht ſehen will. Nehmen Sie an, daß ein
ſolches Genie in einem gewiſſen Stande ge-
bohren wird, der, ich will nicht ſagen der
elendeſte, ſondern nur zu mittelmaͤßig iſt, als
daß er noch zu der ſogenannten goldnen Mit-
telmaͤßigkeit zu rechnen waͤre. Und Sie wiſ-
ſen wohl, die Natur hat einen Wohlgefallen
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/79>, abgerufen am 16.02.2025.
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