kanntschaft mit einer Sprache fehle, die sich über die gemeine Volkssprache nur etwas er- hebet. Sie verwunderten sich, wenn ich ih- nen versicherte, daß mich diese Sprache nicht abschreckte, daß sie mir vielmehr leichter wür- de, als die platte, schwatzhafte Prose der Zei- tungsschreiber. Diese völlige Unbekanntschaft mit den Dichtern ihrer eignen Nation ist in Deutschland der Fall bei so vielen Personen, daß es ein wahres Wunder ist, daß man in diesem Lande dennoch die Musen cultiviret. Sehr wenige Deutsche also wissen ihre Sprache (außer einem gewissen Geschwätz des täglichen gemeinen Lebens) denn man weiß eine Sprache nicht, deren Dichter man nicht verstehet. Und da der ausschweifende Ge- schmack an der Französischen Litteratur daran Schuld ist, so wundert mich der Verdruß und Unwille nicht, mit dem ihm mehrere Gelehrte Deutschlands begegnen."
"Ein andrer nicht weniger empfindlicher Misbrauch, der die Deutschen von Einsicht
Neunte Sammlung. C
kanntſchaft mit einer Sprache fehle, die ſich uͤber die gemeine Volksſprache nur etwas er- hebet. Sie verwunderten ſich, wenn ich ih- nen verſicherte, daß mich dieſe Sprache nicht abſchreckte, daß ſie mir vielmehr leichter wuͤr- de, als die platte, ſchwatzhafte Proſe der Zei- tungsſchreiber. Dieſe voͤllige Unbekanntſchaft mit den Dichtern ihrer eignen Nation iſt in Deutſchland der Fall bei ſo vielen Perſonen, daß es ein wahres Wunder iſt, daß man in dieſem Lande dennoch die Muſen cultiviret. Sehr wenige Deutſche alſo wiſſen ihre Sprache (außer einem gewiſſen Geſchwaͤtz des taͤglichen gemeinen Lebens) denn man weiß eine Sprache nicht, deren Dichter man nicht verſtehet. Und da der ausſchweifende Ge- ſchmack an der Franzoͤſiſchen Litteratur daran Schuld iſt, ſo wundert mich der Verdruß und Unwille nicht, mit dem ihm mehrere Gelehrte Deutſchlands begegnen.“
„Ein andrer nicht weniger empfindlicher Misbrauch, der die Deutſchen von Einſicht
Neunte Sammlung. C
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kanntſchaft mit einer Sprache fehle, die ſich
uͤber die gemeine Volksſprache nur etwas er-
hebet. Sie verwunderten ſich, wenn ich ih-
nen verſicherte, daß mich dieſe Sprache nicht
abſchreckte, daß ſie mir vielmehr leichter wuͤr-
de, als die platte, ſchwatzhafte Proſe der Zei-
tungsſchreiber. Dieſe voͤllige Unbekanntſchaft
mit den Dichtern ihrer eignen Nation iſt in
Deutſchland der Fall bei ſo vielen Perſonen,
daß es ein wahres Wunder iſt, daß man in
dieſem Lande dennoch die Muſen cultiviret.
Sehr wenige Deutſche alſo wiſſen ihre
Sprache (außer einem gewiſſen Geſchwaͤtz des
taͤglichen gemeinen Lebens) denn man weiß
eine Sprache nicht, deren Dichter man nicht
verſtehet. Und da der ausſchweifende Ge-
ſchmack an der Franzoͤſiſchen Litteratur daran
Schuld iſt, ſo wundert mich der Verdruß und
Unwille nicht, mit dem ihm mehrere Gelehrte
Deutſchlands begegnen.“
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/40>, abgerufen am 27.07.2024.
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