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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797.

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wenn ich zum Nachtheil der Kritik etwas las
oder hörte. Sie soll das Genie ersticken:
und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu
erhalten, was dem Genie sehr nahe kommt.
Ich bin ein Lahmer, den eine Schmähschrift
auf die Krücke unmöglich erbauen kann." *)

*) Sollte diese bescheidne Aeußerung Leßings
nicht etwas ungerecht gegen ihn selbst seyn?
Jeder muß sich am besten kennen, und Leßing
war kein Demüthiger, der durch eine falsche
Bescheidenheit ein größeres Lob zu erjagen
suchte, noch ein Fauler, der Talente in sich
abläugnete, um sie nicht brauchen zu dörfen.
Nichts aber ist trüglicher, als die Meinung,
die wir von uns selbst in einzelnen Le-
bensperioden fassen und hegen; wir brin-
gen die Umstände außer uns oft zu wenig, oft
zu viel in Anschlag. Setzet Leßing in ein Land,
an einen Ort, in Umstände, unter denen die
lebendige Quelle von Jugend auf sich em-
porarbeiten konnte, wo ihr tausend lebendige
Kräfte, ungesehen und unbemerkt halfen; er
hätte weniger des Druckwerks, der Röhren
nöthig gehabt, aus sich heraus zu pressen,

wenn ich zum Nachtheil der Kritik etwas las
oder hoͤrte. Sie ſoll das Genie erſticken:
und ich ſchmeichelte mir, etwas von ihr zu
erhalten, was dem Genie ſehr nahe kommt.
Ich bin ein Lahmer, den eine Schmaͤhſchrift
auf die Kruͤcke unmoͤglich erbauen kann.“ *)

*) Sollte dieſe beſcheidne Aeußerung Leßings
nicht etwas ungerecht gegen ihn ſelbſt ſeyn?
Jeder muß ſich am beſten kennen, und Leßing
war kein Demuͤthiger, der durch eine falſche
Beſcheidenheit ein groͤßeres Lob zu erjagen
ſuchte, noch ein Fauler, der Talente in ſich
ablaͤugnete, um ſie nicht brauchen zu doͤrfen.
Nichts aber iſt truͤglicher, als die Meinung,
die wir von uns ſelbſt in einzelnen Le-
bensperioden faſſen und hegen; wir brin-
gen die Umſtaͤnde außer uns oft zu wenig, oft
zu viel in Anſchlag. Setzet Leßing in ein Land,
an einen Ort, in Umſtaͤnde, unter denen die
lebendige Quelle von Jugend auf ſich em-
porarbeiten konnte, wo ihr tauſend lebendige
Kraͤfte, ungeſehen und unbemerkt halfen; er
haͤtte weniger des Druckwerks, der Roͤhren
noͤthig gehabt, aus ſich heraus zu preſſen,
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[105/0112] wenn ich zum Nachtheil der Kritik etwas las oder hoͤrte. Sie ſoll das Genie erſticken: und ich ſchmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie ſehr nahe kommt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmaͤhſchrift auf die Kruͤcke unmoͤglich erbauen kann.“ *) *) Sollte dieſe beſcheidne Aeußerung Leßings nicht etwas ungerecht gegen ihn ſelbſt ſeyn? Jeder muß ſich am beſten kennen, und Leßing war kein Demuͤthiger, der durch eine falſche Beſcheidenheit ein groͤßeres Lob zu erjagen ſuchte, noch ein Fauler, der Talente in ſich ablaͤugnete, um ſie nicht brauchen zu doͤrfen. Nichts aber iſt truͤglicher, als die Meinung, die wir von uns ſelbſt in einzelnen Le- bensperioden faſſen und hegen; wir brin- gen die Umſtaͤnde außer uns oft zu wenig, oft zu viel in Anſchlag. Setzet Leßing in ein Land, an einen Ort, in Umſtaͤnde, unter denen die lebendige Quelle von Jugend auf ſich em- porarbeiten konnte, wo ihr tauſend lebendige Kraͤfte, ungeſehen und unbemerkt halfen; er haͤtte weniger des Druckwerks, der Roͤhren noͤthig gehabt, aus ſich heraus zu preſſen,

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/112>, abgerufen am 28.11.2024.