Christenthum, zu welchem er ursprünglich nicht gehörte, einzuverleiben. Ein specu- lirender Geist, dem es an Materie zur Speculation fehlet, ein liebendes Herz ohne Gegenstand der Liebe, geräth immer auf den Mysticismus. Einsame Gegenden, Klosterzellen, ein Krankenlager, Gefängniß und Kerker, endlich auch auffallende Bege- benheiten, die Bekanntschaft mit sonderbar- liebreichen und bedeutenden Personen, Worte, die man von ihnen gehört, Zeichen der Zeit, die man erlebt hat, u. f. alle diese Dinge brüten den Mysticismus, dies Lieblings- kind unsrer geistigen Wirksamkeit und Träg- heit, in einer groben oder seidenen Umhül- lung aus und geben ihm zuletzt die bunten Flügel des himmlischen Amors. Man lie- bet, und weiß nicht Wen? man begehret, und weiß nicht Was? Etwas Unendliches, das Höchste, Schönste, Beste.
Chriſtenthum, zu welchem er urſpruͤnglich nicht gehoͤrte, einzuverleiben. Ein ſpecu- lirender Geiſt, dem es an Materie zur Speculation fehlet, ein liebendes Herz ohne Gegenſtand der Liebe, geraͤth immer auf den Myſticismus. Einſame Gegenden, Kloſterzellen, ein Krankenlager, Gefaͤngniß und Kerker, endlich auch auffallende Bege- benheiten, die Bekanntſchaft mit ſonderbar- liebreichen und bedeutenden Perſonen, Worte, die man von ihnen gehoͤrt, Zeichen der Zeit, die man erlebt hat, u. f. alle dieſe Dinge bruͤten den Myſticismus, dies Lieblings- kind unſrer geiſtigen Wirkſamkeit und Traͤg- heit, in einer groben oder ſeidenen Umhuͤl- lung aus und geben ihm zuletzt die bunten Fluͤgel des himmliſchen Amors. Man lie- bet, und weiß nicht Wen? man begehret, und weiß nicht Was? Etwas Unendliches, das Hoͤchſte, Schoͤnſte, Beſte.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0057"n="40"/>
Chriſtenthum, zu welchem er urſpruͤnglich<lb/>
nicht gehoͤrte, einzuverleiben. Ein ſpecu-<lb/>
lirender Geiſt, dem es an Materie zur<lb/>
Speculation fehlet, ein liebendes Herz ohne<lb/>
Gegenſtand der Liebe, geraͤth immer auf<lb/>
den Myſticismus. Einſame Gegenden,<lb/>
Kloſterzellen, ein Krankenlager, Gefaͤngniß<lb/>
und Kerker, endlich auch auffallende Bege-<lb/>
benheiten, die Bekanntſchaft mit ſonderbar-<lb/>
liebreichen und bedeutenden Perſonen, Worte,<lb/>
die man von ihnen gehoͤrt, Zeichen der Zeit,<lb/>
die man erlebt hat, u. f. alle dieſe Dinge<lb/>
bruͤten den Myſticismus, dies Lieblings-<lb/>
kind unſrer geiſtigen Wirkſamkeit und Traͤg-<lb/>
heit, in einer groben oder ſeidenen Umhuͤl-<lb/>
lung aus und geben ihm zuletzt die bunten<lb/>
Fluͤgel des himmliſchen Amors. Man lie-<lb/>
bet, und weiß nicht Wen? man begehret, und<lb/>
weiß nicht Was? <hirendition="#g">Etwas Unendliches</hi>,<lb/>
das <hirendition="#g">Hoͤchſte</hi>, <hirendition="#g">Schoͤnſte</hi>, <hirendition="#g">Beſte</hi>.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[40/0057]
Chriſtenthum, zu welchem er urſpruͤnglich
nicht gehoͤrte, einzuverleiben. Ein ſpecu-
lirender Geiſt, dem es an Materie zur
Speculation fehlet, ein liebendes Herz ohne
Gegenſtand der Liebe, geraͤth immer auf
den Myſticismus. Einſame Gegenden,
Kloſterzellen, ein Krankenlager, Gefaͤngniß
und Kerker, endlich auch auffallende Bege-
benheiten, die Bekanntſchaft mit ſonderbar-
liebreichen und bedeutenden Perſonen, Worte,
die man von ihnen gehoͤrt, Zeichen der Zeit,
die man erlebt hat, u. f. alle dieſe Dinge
bruͤten den Myſticismus, dies Lieblings-
kind unſrer geiſtigen Wirkſamkeit und Traͤg-
heit, in einer groben oder ſeidenen Umhuͤl-
lung aus und geben ihm zuletzt die bunten
Fluͤgel des himmliſchen Amors. Man lie-
bet, und weiß nicht Wen? man begehret, und
weiß nicht Was? Etwas Unendliches,
das Hoͤchſte, Schoͤnſte, Beſte.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/57>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.