Aber jene Genien einer ächten Gattung sind in sich gesenkt, als ob keine Welt um sie wäre, und fühlen sich im leisesten Selbstgenusse zufrieden. Die Idee der Traurigkeit, die wir in sie legen, kommt wahrscheinlich von uns selbst her; wir empfinden ihre Blüthe nämlich auf so zar- ter Sprosse, daß uns, mitten im Genuß, der Unbestand derselben zu schmerzen an- fängt. Wir, zumal fremde Nordländer, fühlen, der zarte Ton verhalle, die Rosen- knospe entwickle sich und ersterbe. Das sollten wir indeß nicht fühlen, vielmehr dem Schöpfer der Natur danken, daß er uns eine solche Blüthe menschlichen Da- seyns zeigte. Was Anakreon und die Anthologen, was Sappho, Platon, und wenn er noch vorhanden wäre, Jby- kus von schönen Jünglingen gedichtet und gesungen haben, bliebe uns ohne diese
Aber jene Genien einer aͤchten Gattung ſind in ſich geſenkt, als ob keine Welt um ſie waͤre, und fuͤhlen ſich im leiſeſten Selbſtgenuſſe zufrieden. Die Idee der Traurigkeit, die wir in ſie legen, kommt wahrſcheinlich von uns ſelbſt her; wir empfinden ihre Bluͤthe naͤmlich auf ſo zar- ter Sproſſe, daß uns, mitten im Genuß, der Unbeſtand derſelben zu ſchmerzen an- faͤngt. Wir, zumal fremde Nordlaͤnder, fuͤhlen, der zarte Ton verhalle, die Roſen- knoſpe entwickle ſich und erſterbe. Das ſollten wir indeß nicht fuͤhlen, vielmehr dem Schoͤpfer der Natur danken, daß er uns eine ſolche Bluͤthe menſchlichen Da- ſeyns zeigte. Was Anakreon und die Anthologen, was Sappho, Platon, und wenn er noch vorhanden waͤre, Jby- kus von ſchoͤnen Juͤnglingen gedichtet und geſungen haben, bliebe uns ohne dieſe
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Aber jene Genien einer aͤchten Gattung
ſind in ſich geſenkt, als ob keine Welt um
ſie waͤre, und fuͤhlen ſich im leiſeſten
Selbſtgenuſſe zufrieden. Die Idee der
Traurigkeit, die wir in ſie legen, kommt
wahrſcheinlich von uns ſelbſt her; wir
empfinden ihre Bluͤthe naͤmlich auf ſo zar-
ter Sproſſe, daß uns, mitten im Genuß,
der Unbeſtand derſelben zu ſchmerzen an-
faͤngt. Wir, zumal fremde Nordlaͤnder,
fuͤhlen, der zarte Ton verhalle, die Roſen-
knoſpe entwickle ſich und erſterbe. Das
ſollten wir indeß nicht fuͤhlen, vielmehr
dem Schoͤpfer der Natur danken, daß er
uns eine ſolche Bluͤthe menſchlichen Da-
ſeyns zeigte. Was Anakreon und die
Anthologen, was Sappho, Platon,
und wenn er noch vorhanden waͤre, Jby-
kus von ſchoͤnen Juͤnglingen gedichtet und
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 6. Riga, 1795, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet06_1795/30>, abgerufen am 16.07.2024.
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