ist, mit Träumen, was seyn sollte, also auch seyn wird. Der kranke, zarte, fast nur in der Einbildung lebende Roußean, hat er mit seinen stark-ausgedrückten, rege- gefühlten Visionen mehr Nutzen oder mehr Schaden gebracht? Ich wage es nicht zu entscheiden.
Wie ich fürchte, strebt der Geist unsrer Zeiten vorzüglich zur Auflösung hin. Dem Einen Theil der Welt sollen alle Bande aufhören; Alles soll leicht und lustig wer- den, weil wir des Alten satt, träge und erschlaft sind. Der andre Theil der Men- schen, der sich im Besitz, leider auch oft mit Härte und Uebermuth fühlet, verachtet die Beschwerden der andern, und scheint die Trommeten vor Jericho zu erwarten. Ein nicht erfreulicher Zustand. Ich kenne keine schlimmere Jahrszeit, als die, in welcher alle Elemente gegen einander zu seyn
iſt, mit Traͤumen, was ſeyn ſollte, alſo auch ſeyn wird. Der kranke, zarte, faſt nur in der Einbildung lebende Roußean, hat er mit ſeinen ſtark-ausgedruͤckten, rege- gefuͤhlten Viſionen mehr Nutzen oder mehr Schaden gebracht? Ich wage es nicht zu entſcheiden.
Wie ich fuͤrchte, ſtrebt der Geiſt unſrer Zeiten vorzuͤglich zur Aufloͤſung hin. Dem Einen Theil der Welt ſollen alle Bande aufhoͤren; Alles ſoll leicht und luſtig wer- den, weil wir des Alten ſatt, traͤge und erſchlaft ſind. Der andre Theil der Men- ſchen, der ſich im Beſitz, leider auch oft mit Haͤrte und Uebermuth fuͤhlet, verachtet die Beſchwerden der andern, und ſcheint die Trommeten vor Jericho zu erwarten. Ein nicht erfreulicher Zuſtand. Ich kenne keine ſchlimmere Jahrszeit, als die, in welcher alle Elemente gegen einander zu ſeyn
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iſt, mit Traͤumen, was ſeyn ſollte, alſo
auch ſeyn wird. Der kranke, zarte, faſt
nur in der Einbildung lebende Roußean,
hat er mit ſeinen ſtark-ausgedruͤckten, rege-
gefuͤhlten Viſionen mehr Nutzen oder mehr
Schaden gebracht? Ich wage es nicht zu
entſcheiden.
Wie ich fuͤrchte, ſtrebt der Geiſt unſrer
Zeiten vorzuͤglich zur Aufloͤſung hin.
Dem Einen Theil der Welt ſollen alle Bande
aufhoͤren; Alles ſoll leicht und luſtig wer-
den, weil wir des Alten ſatt, traͤge und
erſchlaft ſind. Der andre Theil der Men-
ſchen, der ſich im Beſitz, leider auch oft
mit Haͤrte und Uebermuth fuͤhlet, verachtet
die Beſchwerden der andern, und ſcheint
die Trommeten vor Jericho zu erwarten.
Ein nicht erfreulicher Zuſtand. Ich kenne
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 2. Riga, 1793, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet02_1793/63>, abgerufen am 22.07.2024.
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