Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 2. Riga, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite

"Und verlöre unser Geschlecht dabei, wenn
es nicht fortrückte? Der einzelne Mensch
nicht: denn der lebt auf seiner Stelle und
kommt nicht wieder. Das Ganze auch nicht;
dies lebt nur in einzelnen Theilen. Die
wachsende Vollkommenheit des Ganzen wäre
ein Ideal, das keinem zu gut kommt, das
nur in einem alles übersehenden Geist exsi-
stiren könnte, etwa im Geist des Schöp-
fers; und was wäre für diesen ein solches
Spielwerk?"

Vergönnen Sie also, daß ich mit Les-
sing den ganzen Traum von wachsender
Vollkommenheit unseres Geschlechts für ei-
nen heilsamen Trug annehme. Der
Mensch muß nach etwas Höherem streben,
damit er nicht unter sich sinke. Er muß vor-
wärts getrieben werden, damit er nur von
der Stelle komme, und nicht in Trägheit
ermatte. Der Wahn einer Perfectibilität

„Und verloͤre unſer Geſchlecht dabei, wenn
es nicht fortruͤckte? Der einzelne Menſch
nicht: denn der lebt auf ſeiner Stelle und
kommt nicht wieder. Das Ganze auch nicht;
dies lebt nur in einzelnen Theilen. Die
wachſende Vollkommenheit des Ganzen waͤre
ein Ideal, das keinem zu gut kommt, das
nur in einem alles uͤberſehenden Geiſt exſi-
ſtiren koͤnnte, etwa im Geiſt des Schoͤp-
fers; und was waͤre fuͤr dieſen ein ſolches
Spielwerk?“

Vergoͤnnen Sie alſo, daß ich mit Leſ-
ſing den ganzen Traum von wachſender
Vollkommenheit unſeres Geſchlechts fuͤr ei-
nen heilſamen Trug annehme. Der
Menſch muß nach etwas Hoͤherem ſtreben,
damit er nicht unter ſich ſinke. Er muß vor-
waͤrts getrieben werden, damit er nur von
der Stelle komme, und nicht in Traͤgheit
ermatte. Der Wahn einer Perfectibilitaͤt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0109" n="104"/>
        <p>&#x201E;Und verlo&#x0364;re un&#x017F;er Ge&#x017F;chlecht dabei, wenn<lb/>
es nicht fortru&#x0364;ckte? Der einzelne Men&#x017F;ch<lb/>
nicht: denn der lebt auf &#x017F;einer Stelle und<lb/>
kommt nicht wieder. Das Ganze auch nicht;<lb/>
dies lebt nur in einzelnen Theilen. Die<lb/>
wach&#x017F;ende Vollkommenheit des Ganzen wa&#x0364;re<lb/>
ein Ideal, das keinem zu gut kommt, das<lb/>
nur in einem alles u&#x0364;ber&#x017F;ehenden Gei&#x017F;t ex&#x017F;i-<lb/>
&#x017F;tiren ko&#x0364;nnte, etwa im Gei&#x017F;t des Scho&#x0364;p-<lb/>
fers; und was wa&#x0364;re fu&#x0364;r die&#x017F;en ein &#x017F;olches<lb/>
Spielwerk?&#x201C;</p><lb/>
        <p>Vergo&#x0364;nnen Sie al&#x017F;o, daß ich mit <hi rendition="#g">Le&#x017F;</hi>-<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;ing</hi> den ganzen Traum von wach&#x017F;ender<lb/>
Vollkommenheit un&#x017F;eres Ge&#x017F;chlechts fu&#x0364;r ei-<lb/>
nen <hi rendition="#g">heil&#x017F;amen Trug</hi> annehme. Der<lb/>
Men&#x017F;ch muß nach etwas Ho&#x0364;herem &#x017F;treben,<lb/>
damit er nicht unter &#x017F;ich &#x017F;inke. Er muß vor-<lb/>
wa&#x0364;rts getrieben werden, damit er nur von<lb/>
der Stelle komme, und nicht in Tra&#x0364;gheit<lb/>
ermatte. Der Wahn einer Perfectibilita&#x0364;t<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0109] „Und verloͤre unſer Geſchlecht dabei, wenn es nicht fortruͤckte? Der einzelne Menſch nicht: denn der lebt auf ſeiner Stelle und kommt nicht wieder. Das Ganze auch nicht; dies lebt nur in einzelnen Theilen. Die wachſende Vollkommenheit des Ganzen waͤre ein Ideal, das keinem zu gut kommt, das nur in einem alles uͤberſehenden Geiſt exſi- ſtiren koͤnnte, etwa im Geiſt des Schoͤp- fers; und was waͤre fuͤr dieſen ein ſolches Spielwerk?“ Vergoͤnnen Sie alſo, daß ich mit Leſ- ſing den ganzen Traum von wachſender Vollkommenheit unſeres Geſchlechts fuͤr ei- nen heilſamen Trug annehme. Der Menſch muß nach etwas Hoͤherem ſtreben, damit er nicht unter ſich ſinke. Er muß vor- waͤrts getrieben werden, damit er nur von der Stelle komme, und nicht in Traͤgheit ermatte. Der Wahn einer Perfectibilitaͤt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet02_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet02_1793/109
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 2. Riga, 1793, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet02_1793/109>, abgerufen am 15.05.2024.