Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 1. Riga, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite

warten wir, wenn wir von einem neuen
Dichter hören, zuerst und vor allem ein
Wort des Herzens zum Herzen, einen Laut
der allgemeinen Stimme, des Wunsches
und Strebens der Nationen, den Hauch
und Nachklang des mächtigen Zeitgeistes.

Der göttliche Mund der Muse ist in aller
Welt gepriesen. Sie darf Dinge sagen,
die die Prose nicht zu sagen wagt, und
flößet sie unvermerkt in Herz und Seele.
Gab sie der Fabel einst jenen lieblichen Ton,
jene Süßigkeit, nach welcher wir auch nach
Jahrtausenden noch, wie nach einer Er-
quickung lechzen; wie? und sie sollte der
auf uns dringenden Wahrheit wenigstens
einen gefälligen Anzug, eine einladende Ge-
stalt nicht zu geben vermögen?

Oft beunruhigen mich in meiner Ein-
samkeit die Schatten jener alten mächtigen
Dichter und Weisen. Jesaias, Pindar,

warten wir, wenn wir von einem neuen
Dichter hoͤren, zuerſt und vor allem ein
Wort des Herzens zum Herzen, einen Laut
der allgemeinen Stimme, des Wunſches
und Strebens der Nationen, den Hauch
und Nachklang des maͤchtigen Zeitgeiſtes.

Der goͤttliche Mund der Muſe iſt in aller
Welt geprieſen. Sie darf Dinge ſagen,
die die Proſe nicht zu ſagen wagt, und
floͤßet ſie unvermerkt in Herz und Seele.
Gab ſie der Fabel einſt jenen lieblichen Ton,
jene Suͤßigkeit, nach welcher wir auch nach
Jahrtauſenden noch, wie nach einer Er-
quickung lechzen; wie? und ſie ſollte der
auf uns dringenden Wahrheit wenigſtens
einen gefaͤlligen Anzug, eine einladende Ge-
ſtalt nicht zu geben vermoͤgen?

Oft beunruhigen mich in meiner Ein-
ſamkeit die Schatten jener alten maͤchtigen
Dichter und Weiſen. Jeſaias, Pindar,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0169" n="162"/>
warten wir, wenn wir von einem neuen<lb/>
Dichter ho&#x0364;ren, zuer&#x017F;t und vor allem ein<lb/>
Wort des Herzens zum Herzen, einen Laut<lb/>
der allgemeinen Stimme, des Wun&#x017F;ches<lb/>
und Strebens der Nationen, den Hauch<lb/>
und Nachklang des ma&#x0364;chtigen Zeitgei&#x017F;tes.</p><lb/>
        <p>Der go&#x0364;ttliche Mund der Mu&#x017F;e i&#x017F;t in aller<lb/>
Welt geprie&#x017F;en. Sie darf Dinge &#x017F;agen,<lb/>
die die Pro&#x017F;e nicht zu &#x017F;agen wagt, und<lb/>
flo&#x0364;ßet &#x017F;ie unvermerkt in Herz und Seele.<lb/>
Gab &#x017F;ie der Fabel ein&#x017F;t jenen lieblichen Ton,<lb/>
jene Su&#x0364;ßigkeit, nach welcher wir auch nach<lb/>
Jahrtau&#x017F;enden noch, wie nach einer Er-<lb/>
quickung lechzen; wie? und &#x017F;ie &#x017F;ollte der<lb/>
auf uns dringenden Wahrheit wenig&#x017F;tens<lb/>
einen gefa&#x0364;lligen Anzug, eine einladende Ge-<lb/>
&#x017F;talt nicht zu geben vermo&#x0364;gen?</p><lb/>
        <p>Oft beunruhigen mich in meiner Ein-<lb/>
&#x017F;amkeit die Schatten jener alten ma&#x0364;chtigen<lb/>
Dichter und Wei&#x017F;en. Je&#x017F;aias, Pindar,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[162/0169] warten wir, wenn wir von einem neuen Dichter hoͤren, zuerſt und vor allem ein Wort des Herzens zum Herzen, einen Laut der allgemeinen Stimme, des Wunſches und Strebens der Nationen, den Hauch und Nachklang des maͤchtigen Zeitgeiſtes. Der goͤttliche Mund der Muſe iſt in aller Welt geprieſen. Sie darf Dinge ſagen, die die Proſe nicht zu ſagen wagt, und floͤßet ſie unvermerkt in Herz und Seele. Gab ſie der Fabel einſt jenen lieblichen Ton, jene Suͤßigkeit, nach welcher wir auch nach Jahrtauſenden noch, wie nach einer Er- quickung lechzen; wie? und ſie ſollte der auf uns dringenden Wahrheit wenigſtens einen gefaͤlligen Anzug, eine einladende Ge- ſtalt nicht zu geben vermoͤgen? Oft beunruhigen mich in meiner Ein- ſamkeit die Schatten jener alten maͤchtigen Dichter und Weiſen. Jeſaias, Pindar,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet01_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet01_1793/169
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 1. Riga, 1793, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet01_1793/169>, abgerufen am 24.11.2024.