Schmeichelei unser Angesicht schänden. Un- ter uns ist, wie jener Apostel sagte, kein Jude noch Grieche, kein Knecht noch Freier, kein Mann noch Weib; wir sind Eins und Einer. Indem wir an uns und nicht an die Welt schreiben, gehen wir aller eitlen Rücksichten müßig; warum sollten wir heucheln? Das lohnte der Mühe nicht, die Feder einzutunken; wir dürften sodann nur lesen. --
Lesen! sagte das ganze Chor, und ging in ein Detail über das, was jener hier, dieser dort gelesen hatte; alle waren dar- über einig, daß es der Seele eine Arznei sey, wenn sie vom zertheilten, vielfachen Lesen in sich zurückgezogen werde, und wie durch ein Gelübde, oder vor einem heiligen Gericht, über das was sie gehört, gelesen, gesehen hat, sich selbst redliche Rechenschaft gebe.
Schmeichelei unſer Angeſicht ſchaͤnden. Un- ter uns iſt, wie jener Apoſtel ſagte, kein Jude noch Grieche, kein Knecht noch Freier, kein Mann noch Weib; wir ſind Eins und Einer. Indem wir an uns und nicht an die Welt ſchreiben, gehen wir aller eitlen Ruͤckſichten muͤßig; warum ſollten wir heucheln? Das lohnte der Muͤhe nicht, die Feder einzutunken; wir duͤrften ſodann nur leſen. —
Leſen! ſagte das ganze Chor, und ging in ein Detail uͤber das, was jener hier, dieſer dort geleſen hatte; alle waren dar- uͤber einig, daß es der Seele eine Arznei ſey, wenn ſie vom zertheilten, vielfachen Leſen in ſich zuruͤckgezogen werde, und wie durch ein Geluͤbde, oder vor einem heiligen Gericht, uͤber das was ſie gehoͤrt, geleſen, geſehen hat, ſich ſelbſt redliche Rechenſchaft gebe.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0015"n="8"/>
Schmeichelei unſer Angeſicht ſchaͤnden. Un-<lb/>
ter uns iſt, wie jener Apoſtel ſagte, <hirendition="#g">kein<lb/>
Jude noch Grieche</hi>, <hirendition="#g">kein Knecht<lb/>
noch Freier</hi>, <hirendition="#g">kein Mann noch Weib</hi>;<lb/><hirendition="#g">wir ſind Eins und Einer</hi>. Indem<lb/>
wir an uns und nicht an die Welt ſchreiben,<lb/>
gehen wir aller eitlen Ruͤckſichten muͤßig;<lb/>
warum ſollten wir heucheln? Das lohnte<lb/>
der Muͤhe nicht, die Feder einzutunken;<lb/>
wir duͤrften ſodann nur leſen. —</p><lb/><p>Leſen! ſagte das ganze Chor, und ging<lb/>
in ein Detail uͤber das, was jener hier,<lb/>
dieſer dort geleſen hatte; alle waren dar-<lb/>
uͤber einig, daß es der Seele eine Arznei<lb/>ſey, wenn ſie vom zertheilten, vielfachen<lb/>
Leſen in ſich zuruͤckgezogen werde, und wie<lb/>
durch ein Geluͤbde, oder vor einem heiligen<lb/>
Gericht, uͤber das was ſie gehoͤrt, geleſen,<lb/>
geſehen hat, ſich ſelbſt redliche Rechenſchaft<lb/>
gebe.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[8/0015]
Schmeichelei unſer Angeſicht ſchaͤnden. Un-
ter uns iſt, wie jener Apoſtel ſagte, kein
Jude noch Grieche, kein Knecht
noch Freier, kein Mann noch Weib;
wir ſind Eins und Einer. Indem
wir an uns und nicht an die Welt ſchreiben,
gehen wir aller eitlen Ruͤckſichten muͤßig;
warum ſollten wir heucheln? Das lohnte
der Muͤhe nicht, die Feder einzutunken;
wir duͤrften ſodann nur leſen. —
Leſen! ſagte das ganze Chor, und ging
in ein Detail uͤber das, was jener hier,
dieſer dort geleſen hatte; alle waren dar-
uͤber einig, daß es der Seele eine Arznei
ſey, wenn ſie vom zertheilten, vielfachen
Leſen in ſich zuruͤckgezogen werde, und wie
durch ein Geluͤbde, oder vor einem heiligen
Gericht, uͤber das was ſie gehoͤrt, geleſen,
geſehen hat, ſich ſelbſt redliche Rechenſchaft
gebe.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 1. Riga, 1793, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet01_1793/15>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.