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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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jene kleidet er in eine Bedeutungsvolle Erzählung. Ein ein-
ziger verbotener Baum ist im Paradiese und dieser Baum
trägt in der Ueberredung der Schlange die Frucht der Götter-
weisheit, nach der dem Menschen gelüstet. Konnte er nach
etwas Höherem gelüsten? konnte er auch in seinem Fall mehr
geadelt werden? Man vergleiche, auch nur als Allegorie be-
trachtet, die Erzählung mit den Sagen andrer Nationen; sie
ist die feinste und schönste, ein symbolisches Bild von dem,
was unserm Geschlecht von jeher alles Wohl und Weh brach-
te. Unser zweydeutiges Streben nach Erkenntnissen, die uns
nicht ziemen, der lüsterne Gebrauch und Misbrauch unsrer
Freiheit, die unruhige Erweiterung und Uebertretung der
Schranken, die einem so schwachen Geschöpf, das sich selbst zu
bestimmen erst lernen soll, durch moralische Gebote nothwen-
dig gesetzt werden mußten; dies ist das feurige Rad, unter
dem wir ächzen und das jetzt doch beinah den Cirkel unsres
Lebens ausmacht. Der alte Philosoph der Menschengeschichte
wuste dies wie wirs wissen und zeigt uns den Knoten davon
in einer Kindergeschichte, die fast alle Enden der Menschheit
zusammenknüpfet. Auch der Jndier erzählt von Riesen, die
nach der Speise der Unsterblichkeit gruben: auch der Tibeta-
ner spricht von seinen durch eine Missethat herabgesunkenen
Lahen; nichts aber, dünkt mich, reicht an die reine Tiefe, an
die kindliche Einfalt dieser Sage, die nur so viel Wunderba-

res
Jdeen, II. Th. U u

jene kleidet er in eine Bedeutungsvolle Erzaͤhlung. Ein ein-
ziger verbotener Baum iſt im Paradieſe und dieſer Baum
traͤgt in der Ueberredung der Schlange die Frucht der Goͤtter-
weisheit, nach der dem Menſchen geluͤſtet. Konnte er nach
etwas Hoͤherem geluͤſten? konnte er auch in ſeinem Fall mehr
geadelt werden? Man vergleiche, auch nur als Allegorie be-
trachtet, die Erzaͤhlung mit den Sagen andrer Nationen; ſie
iſt die feinſte und ſchoͤnſte, ein ſymboliſches Bild von dem,
was unſerm Geſchlecht von jeher alles Wohl und Weh brach-
te. Unſer zweydeutiges Streben nach Erkenntniſſen, die uns
nicht ziemen, der luͤſterne Gebrauch und Misbrauch unſrer
Freiheit, die unruhige Erweiterung und Uebertretung der
Schranken, die einem ſo ſchwachen Geſchoͤpf, das ſich ſelbſt zu
beſtimmen erſt lernen ſoll, durch moraliſche Gebote nothwen-
dig geſetzt werden mußten; dies iſt das feurige Rad, unter
dem wir aͤchzen und das jetzt doch beinah den Cirkel unſres
Lebens ausmacht. Der alte Philoſoph der Menſchengeſchichte
wuſte dies wie wirs wiſſen und zeigt uns den Knoten davon
in einer Kindergeſchichte, die faſt alle Enden der Menſchheit
zuſammenknuͤpfet. Auch der Jndier erzaͤhlt von Rieſen, die
nach der Speiſe der Unſterblichkeit gruben: auch der Tibeta-
ner ſpricht von ſeinen durch eine Miſſethat herabgeſunkenen
Lahen; nichts aber, duͤnkt mich, reicht an die reine Tiefe, an
die kindliche Einfalt dieſer Sage, die nur ſo viel Wunderba-

res
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[337/0349] jene kleidet er in eine Bedeutungsvolle Erzaͤhlung. Ein ein- ziger verbotener Baum iſt im Paradieſe und dieſer Baum traͤgt in der Ueberredung der Schlange die Frucht der Goͤtter- weisheit, nach der dem Menſchen geluͤſtet. Konnte er nach etwas Hoͤherem geluͤſten? konnte er auch in ſeinem Fall mehr geadelt werden? Man vergleiche, auch nur als Allegorie be- trachtet, die Erzaͤhlung mit den Sagen andrer Nationen; ſie iſt die feinſte und ſchoͤnſte, ein ſymboliſches Bild von dem, was unſerm Geſchlecht von jeher alles Wohl und Weh brach- te. Unſer zweydeutiges Streben nach Erkenntniſſen, die uns nicht ziemen, der luͤſterne Gebrauch und Misbrauch unſrer Freiheit, die unruhige Erweiterung und Uebertretung der Schranken, die einem ſo ſchwachen Geſchoͤpf, das ſich ſelbſt zu beſtimmen erſt lernen ſoll, durch moraliſche Gebote nothwen- dig geſetzt werden mußten; dies iſt das feurige Rad, unter dem wir aͤchzen und das jetzt doch beinah den Cirkel unſres Lebens ausmacht. Der alte Philoſoph der Menſchengeſchichte wuſte dies wie wirs wiſſen und zeigt uns den Knoten davon in einer Kindergeſchichte, die faſt alle Enden der Menſchheit zuſammenknuͤpfet. Auch der Jndier erzaͤhlt von Rieſen, die nach der Speiſe der Unſterblichkeit gruben: auch der Tibeta- ner ſpricht von ſeinen durch eine Miſſethat herabgeſunkenen Lahen; nichts aber, duͤnkt mich, reicht an die reine Tiefe, an die kindliche Einfalt dieſer Sage, die nur ſo viel Wunderba- res Jdeen, II. Th. U u

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/349>, abgerufen am 25.11.2024.