V. Aelteste Schrifttradition über den Ursprung der Menschengeschichte.
Als einst die Schöpfung unsrer Erde und unsres Him- mels begann, erzählt diese Sage, war die Erde zuerst ein wüster, unförmlicher Körper, auf dem ein dunkles Meer fluthete und eine lebendige brütende Kraft bewegte sich auf diesen Wassern. -- Sollte nach allen neuern Erfah- rungen der älteste Zustand der Erde angegeben werden, wie ihn ohne den Flug unbeweisbarer Hypothesen der forschende Verstand zu geben vermag: so finden wir genau diese alte Be- schreibung wieder. Ein ungeheurer Granitfels, größtentheils mit Wasser bedeckt und über ihm Lebenschwangre Naturkräfte; das ists, was wir wissen: mehr wissen wir nicht. Daß die- ser Fels glühend aus der Sonne geschleudert sei, ist ein riesen- hafter Gedanke, der aber weder in der Analogie der Natur noch in der fortgehenden Entwicklung unsrer Erde Grund findet: denn wie kamen Wasser auf diese glühende Masse? woher kam ihr ihre runde Gestalt? woher ihr Umschwung und ihre Pole? da im Feuer der Magnet seine Kräfte verlieret. Viel wahr- scheinlicher ist, daß dieser wunderbare Urfels durch innere Kräfte
sich
V. Aelteſte Schrifttradition uͤber den Urſprung der Menſchengeſchichte.
Als einſt die Schoͤpfung unſrer Erde und unſres Him- mels begann, erzaͤhlt dieſe Sage, war die Erde zuerſt ein wuͤſter, unfoͤrmlicher Koͤrper, auf dem ein dunkles Meer fluthete und eine lebendige bruͤtende Kraft bewegte ſich auf dieſen Waſſern. — Sollte nach allen neuern Erfah- rungen der aͤlteſte Zuſtand der Erde angegeben werden, wie ihn ohne den Flug unbeweisbarer Hypotheſen der forſchende Verſtand zu geben vermag: ſo finden wir genau dieſe alte Be- ſchreibung wieder. Ein ungeheurer Granitfels, groͤßtentheils mit Waſſer bedeckt und uͤber ihm Lebenſchwangre Naturkraͤfte; das iſts, was wir wiſſen: mehr wiſſen wir nicht. Daß die- ſer Fels gluͤhend aus der Sonne geſchleudert ſei, iſt ein rieſen- hafter Gedanke, der aber weder in der Analogie der Natur noch in der fortgehenden Entwicklung unſrer Erde Grund findet: denn wie kamen Waſſer auf dieſe gluͤhende Maſſe? woher kam ihr ihre runde Geſtalt? woher ihr Umſchwung und ihre Pole? da im Feuer der Magnet ſeine Kraͤfte verlieret. Viel wahr- ſcheinlicher iſt, daß dieſer wunderbare Urfels durch innere Kraͤfte
ſich
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0326"n="314"/><divn="2"><head><hirendition="#aq">V.</hi><lb/>
Aelteſte Schrifttradition uͤber den Urſprung der<lb/>
Menſchengeſchichte.</head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#fr"><hirendition="#in">A</hi>ls einſt die Schoͤpfung unſrer Erde und unſres Him-<lb/>
mels begann</hi>, erzaͤhlt dieſe Sage, <hirendition="#fr">war die Erde zuerſt ein<lb/>
wuͤſter, unfoͤrmlicher Koͤrper, auf dem ein dunkles Meer<lb/>
fluthete und eine lebendige bruͤtende Kraft bewegte ſich<lb/>
auf dieſen Waſſern.</hi>— Sollte nach allen neuern Erfah-<lb/>
rungen der aͤlteſte Zuſtand der Erde angegeben werden, wie<lb/>
ihn ohne den Flug unbeweisbarer Hypotheſen der forſchende<lb/>
Verſtand zu geben vermag: ſo finden wir genau dieſe alte Be-<lb/>ſchreibung wieder. Ein ungeheurer Granitfels, groͤßtentheils<lb/>
mit Waſſer bedeckt und uͤber ihm Lebenſchwangre Naturkraͤfte;<lb/>
das iſts, was wir wiſſen: mehr wiſſen wir nicht. Daß die-<lb/>ſer Fels gluͤhend aus der Sonne geſchleudert ſei, iſt ein rieſen-<lb/>
hafter Gedanke, der aber weder in der Analogie der Natur noch<lb/>
in der fortgehenden Entwicklung unſrer Erde Grund findet:<lb/>
denn wie kamen Waſſer auf dieſe gluͤhende Maſſe? woher kam<lb/>
ihr ihre runde Geſtalt? woher ihr Umſchwung und ihre Pole?<lb/>
da im Feuer der Magnet ſeine Kraͤfte verlieret. Viel wahr-<lb/>ſcheinlicher iſt, daß dieſer wunderbare Urfels durch innere Kraͤfte<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſich</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[314/0326]
V.
Aelteſte Schrifttradition uͤber den Urſprung der
Menſchengeſchichte.
Als einſt die Schoͤpfung unſrer Erde und unſres Him-
mels begann, erzaͤhlt dieſe Sage, war die Erde zuerſt ein
wuͤſter, unfoͤrmlicher Koͤrper, auf dem ein dunkles Meer
fluthete und eine lebendige bruͤtende Kraft bewegte ſich
auf dieſen Waſſern. — Sollte nach allen neuern Erfah-
rungen der aͤlteſte Zuſtand der Erde angegeben werden, wie
ihn ohne den Flug unbeweisbarer Hypotheſen der forſchende
Verſtand zu geben vermag: ſo finden wir genau dieſe alte Be-
ſchreibung wieder. Ein ungeheurer Granitfels, groͤßtentheils
mit Waſſer bedeckt und uͤber ihm Lebenſchwangre Naturkraͤfte;
das iſts, was wir wiſſen: mehr wiſſen wir nicht. Daß die-
ſer Fels gluͤhend aus der Sonne geſchleudert ſei, iſt ein rieſen-
hafter Gedanke, der aber weder in der Analogie der Natur noch
in der fortgehenden Entwicklung unſrer Erde Grund findet:
denn wie kamen Waſſer auf dieſe gluͤhende Maſſe? woher kam
ihr ihre runde Geſtalt? woher ihr Umſchwung und ihre Pole?
da im Feuer der Magnet ſeine Kraͤfte verlieret. Viel wahr-
ſcheinlicher iſt, daß dieſer wunderbare Urfels durch innere Kraͤfte
ſich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/326>, abgerufen am 21.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.