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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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V.
Aelteste Schrifttradition über den Ursprung der
Menschengeschichte.


Als einst die Schöpfung unsrer Erde und unsres Him-
mels begann
, erzählt diese Sage, war die Erde zuerst ein
wüster, unförmlicher Körper, auf dem ein dunkles Meer
fluthete und eine lebendige brütende Kraft bewegte sich
auf diesen Wassern.
-- Sollte nach allen neuern Erfah-
rungen der älteste Zustand der Erde angegeben werden, wie
ihn ohne den Flug unbeweisbarer Hypothesen der forschende
Verstand zu geben vermag: so finden wir genau diese alte Be-
schreibung wieder. Ein ungeheurer Granitfels, größtentheils
mit Wasser bedeckt und über ihm Lebenschwangre Naturkräfte;
das ists, was wir wissen: mehr wissen wir nicht. Daß die-
ser Fels glühend aus der Sonne geschleudert sei, ist ein riesen-
hafter Gedanke, der aber weder in der Analogie der Natur noch
in der fortgehenden Entwicklung unsrer Erde Grund findet:
denn wie kamen Wasser auf diese glühende Masse? woher kam
ihr ihre runde Gestalt? woher ihr Umschwung und ihre Pole?
da im Feuer der Magnet seine Kräfte verlieret. Viel wahr-
scheinlicher ist, daß dieser wunderbare Urfels durch innere Kräfte

sich
V.
Aelteſte Schrifttradition uͤber den Urſprung der
Menſchengeſchichte.


Als einſt die Schoͤpfung unſrer Erde und unſres Him-
mels begann
, erzaͤhlt dieſe Sage, war die Erde zuerſt ein
wuͤſter, unfoͤrmlicher Koͤrper, auf dem ein dunkles Meer
fluthete und eine lebendige bruͤtende Kraft bewegte ſich
auf dieſen Waſſern.
— Sollte nach allen neuern Erfah-
rungen der aͤlteſte Zuſtand der Erde angegeben werden, wie
ihn ohne den Flug unbeweisbarer Hypotheſen der forſchende
Verſtand zu geben vermag: ſo finden wir genau dieſe alte Be-
ſchreibung wieder. Ein ungeheurer Granitfels, groͤßtentheils
mit Waſſer bedeckt und uͤber ihm Lebenſchwangre Naturkraͤfte;
das iſts, was wir wiſſen: mehr wiſſen wir nicht. Daß die-
ſer Fels gluͤhend aus der Sonne geſchleudert ſei, iſt ein rieſen-
hafter Gedanke, der aber weder in der Analogie der Natur noch
in der fortgehenden Entwicklung unſrer Erde Grund findet:
denn wie kamen Waſſer auf dieſe gluͤhende Maſſe? woher kam
ihr ihre runde Geſtalt? woher ihr Umſchwung und ihre Pole?
da im Feuer der Magnet ſeine Kraͤfte verlieret. Viel wahr-
ſcheinlicher iſt, daß dieſer wunderbare Urfels durch innere Kraͤfte

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[314/0326] V. Aelteſte Schrifttradition uͤber den Urſprung der Menſchengeſchichte. Als einſt die Schoͤpfung unſrer Erde und unſres Him- mels begann, erzaͤhlt dieſe Sage, war die Erde zuerſt ein wuͤſter, unfoͤrmlicher Koͤrper, auf dem ein dunkles Meer fluthete und eine lebendige bruͤtende Kraft bewegte ſich auf dieſen Waſſern. — Sollte nach allen neuern Erfah- rungen der aͤlteſte Zuſtand der Erde angegeben werden, wie ihn ohne den Flug unbeweisbarer Hypotheſen der forſchende Verſtand zu geben vermag: ſo finden wir genau dieſe alte Be- ſchreibung wieder. Ein ungeheurer Granitfels, groͤßtentheils mit Waſſer bedeckt und uͤber ihm Lebenſchwangre Naturkraͤfte; das iſts, was wir wiſſen: mehr wiſſen wir nicht. Daß die- ſer Fels gluͤhend aus der Sonne geſchleudert ſei, iſt ein rieſen- hafter Gedanke, der aber weder in der Analogie der Natur noch in der fortgehenden Entwicklung unſrer Erde Grund findet: denn wie kamen Waſſer auf dieſe gluͤhende Maſſe? woher kam ihr ihre runde Geſtalt? woher ihr Umſchwung und ihre Pole? da im Feuer der Magnet ſeine Kraͤfte verlieret. Viel wahr- ſcheinlicher iſt, daß dieſer wunderbare Urfels durch innere Kraͤfte ſich

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/326>, abgerufen am 25.11.2024.