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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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licher Weg, wie wenn man dem Regenbogen oder der Echo
nachliefe: denn so wenig ein Kind, ob es gleich bei seiner Ge-
burt war, dieselbe zu erzählen weiß, so wenig dörfen wir hof-
fen, daß uns das Menschengeschlecht von seiner Schöpfung
und ersten Lehre, von der Erfindung der Sprache und seinem
ersten Wohnsitz historisch-strenge Nachrichten zu geben vermöge.
Jndessen erinnert sich doch ein Kind aus seiner späteren Ju-
gend wenigstens einige Züge; und wenn mehrere Kinder, die
zusammen erzogen, hernach getrennt wurden, Dasselbe oder
ein Aehnliches erzählen, warum sollte man sie nicht hören?
warum nicht über das, was sie sagen oder zurückträumen, we-
nigstens nachsinnen wollen, zumal wenn man keine andern Do-
cumente haben könnte. Und da es der unverkennbare Ent-
wurf der Vorsehung ist, Menschen durch Menschen d. i. durch
eine fortwirkende Tradition zu lehren: so lasset uns nicht zwei-
feln, daß sie uns auch hierinn so viel werde gegönnet haben,
als wir zu wissen bedörfen.

IV.
Asiatische Traditionen über die Schöpfung der Erde
und den Ursprung des Menschengeschlechtes.


Aber wo fangen wir in diesem wüsten Walde an, in dem so
viel trügerische Stimmen und Jrrlichte hie- und dahin locken

und
Jdeen, II. Th. Q q

licher Weg, wie wenn man dem Regenbogen oder der Echo
nachliefe: denn ſo wenig ein Kind, ob es gleich bei ſeiner Ge-
burt war, dieſelbe zu erzaͤhlen weiß, ſo wenig doͤrfen wir hof-
fen, daß uns das Menſchengeſchlecht von ſeiner Schoͤpfung
und erſten Lehre, von der Erfindung der Sprache und ſeinem
erſten Wohnſitz hiſtoriſch-ſtrenge Nachrichten zu geben vermoͤge.
Jndeſſen erinnert ſich doch ein Kind aus ſeiner ſpaͤteren Ju-
gend wenigſtens einige Zuͤge; und wenn mehrere Kinder, die
zuſammen erzogen, hernach getrennt wurden, Daſſelbe oder
ein Aehnliches erzaͤhlen, warum ſollte man ſie nicht hoͤren?
warum nicht uͤber das, was ſie ſagen oder zuruͤcktraͤumen, we-
nigſtens nachſinnen wollen, zumal wenn man keine andern Do-
cumente haben koͤnnte. Und da es der unverkennbare Ent-
wurf der Vorſehung iſt, Menſchen durch Menſchen d. i. durch
eine fortwirkende Tradition zu lehren: ſo laſſet uns nicht zwei-
feln, daß ſie uns auch hierinn ſo viel werde gegoͤnnet haben,
als wir zu wiſſen bedoͤrfen.

IV.
Aſiatiſche Traditionen uͤber die Schoͤpfung der Erde
und den Urſprung des Menſchengeſchlechtes.


Aber wo fangen wir in dieſem wuͤſten Walde an, in dem ſo
viel truͤgeriſche Stimmen und Jrrlichte hie- und dahin locken

und
Jdeen, II. Th. Q q
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[305/0317] licher Weg, wie wenn man dem Regenbogen oder der Echo nachliefe: denn ſo wenig ein Kind, ob es gleich bei ſeiner Ge- burt war, dieſelbe zu erzaͤhlen weiß, ſo wenig doͤrfen wir hof- fen, daß uns das Menſchengeſchlecht von ſeiner Schoͤpfung und erſten Lehre, von der Erfindung der Sprache und ſeinem erſten Wohnſitz hiſtoriſch-ſtrenge Nachrichten zu geben vermoͤge. Jndeſſen erinnert ſich doch ein Kind aus ſeiner ſpaͤteren Ju- gend wenigſtens einige Zuͤge; und wenn mehrere Kinder, die zuſammen erzogen, hernach getrennt wurden, Daſſelbe oder ein Aehnliches erzaͤhlen, warum ſollte man ſie nicht hoͤren? warum nicht uͤber das, was ſie ſagen oder zuruͤcktraͤumen, we- nigſtens nachſinnen wollen, zumal wenn man keine andern Do- cumente haben koͤnnte. Und da es der unverkennbare Ent- wurf der Vorſehung iſt, Menſchen durch Menſchen d. i. durch eine fortwirkende Tradition zu lehren: ſo laſſet uns nicht zwei- feln, daß ſie uns auch hierinn ſo viel werde gegoͤnnet haben, als wir zu wiſſen bedoͤrfen. IV. Aſiatiſche Traditionen uͤber die Schoͤpfung der Erde und den Urſprung des Menſchengeſchlechtes. Aber wo fangen wir in dieſem wuͤſten Walde an, in dem ſo viel truͤgeriſche Stimmen und Jrrlichte hie- und dahin locken und Jdeen, II. Th. Q q

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/317>, abgerufen am 22.11.2024.