Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Europäischen Sprachen mit ihren unnützen Hülfsworten und
langweiligen Flexionen sich nie mehr verräth, als wenn man
sie mit den Sprachen Asiens vergleichet. Daher fallen diese
auch, je älter sie sind, dem Europäer zu lernen schwer: denn
er muß den nutzlosen Reichthum seiner Zunge aufgeben und
kommt in ihnen wie zu einer fein-durchdachten, leise-geregelten
Hieroglyphik der unsichtbaren Gedankensprache.

Das gewisseste Zeichen der Cultur einer Sprache ist ihre
Schrift; je älter, künstlicher, durchdachter diese war, desto mehr
ward auch die Sprache gebildet. Nun kann, wenn man nicht
etwa die Scythen ausnähme, die auch ein Asiatisches Volk
waren, keine Europäische Nation sich eines selbsterfundenen
Alphabets rühmen: sie stehen hierinn als Barbaren den Ne-
gern und Amerikanern zur Seite. Asien allein hatte Schrift
und zwar schon in den ältesten Zeiten. Die erste gebildete
Nation Europa's, die Griechen, bekamen ihr Alphabet von
einem Morgenländer und daß alle andre Buchstabencharaktere
der Europäer abgeleitete oder verdorbne Züge der Griechen
sind, zeigen die Büttnerschen Tafelna). Auch der Aegypter
älteste Buchstabenschrift auf ihren Mumien ist phönicisch und

so
a) S. Vergleichungstafeln der Schriftarten verschiedner Völker von
Büttner Göttingen 1771.
Jdeen, II. Th. P p

Europaͤiſchen Sprachen mit ihren unnuͤtzen Huͤlfsworten und
langweiligen Flexionen ſich nie mehr verraͤth, als wenn man
ſie mit den Sprachen Aſiens vergleichet. Daher fallen dieſe
auch, je aͤlter ſie ſind, dem Europaͤer zu lernen ſchwer: denn
er muß den nutzloſen Reichthum ſeiner Zunge aufgeben und
kommt in ihnen wie zu einer fein-durchdachten, leiſe-geregelten
Hieroglyphik der unſichtbaren Gedankenſprache.

Das gewiſſeſte Zeichen der Cultur einer Sprache iſt ihre
Schrift; je aͤlter, kuͤnſtlicher, durchdachter dieſe war, deſto mehr
ward auch die Sprache gebildet. Nun kann, wenn man nicht
etwa die Scythen ausnaͤhme, die auch ein Aſiatiſches Volk
waren, keine Europaͤiſche Nation ſich eines ſelbſterfundenen
Alphabets ruͤhmen: ſie ſtehen hierinn als Barbaren den Ne-
gern und Amerikanern zur Seite. Aſien allein hatte Schrift
und zwar ſchon in den aͤlteſten Zeiten. Die erſte gebildete
Nation Europa's, die Griechen, bekamen ihr Alphabet von
einem Morgenlaͤnder und daß alle andre Buchſtabencharaktere
der Europaͤer abgeleitete oder verdorbne Zuͤge der Griechen
ſind, zeigen die Buͤttnerſchen Tafelna). Auch der Aegypter
aͤlteſte Buchſtabenſchrift auf ihren Mumien iſt phoͤniciſch und

ſo
a) S. Vergleichungstafeln der Schriftarten verſchiedner Voͤlker von
Buͤttner Goͤttingen 1771.
Jdeen, II. Th. P p
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0309" n="297"/>
Europa&#x0364;i&#x017F;chen Sprachen mit ihren unnu&#x0364;tzen Hu&#x0364;lfsworten und<lb/>
langweiligen Flexionen &#x017F;ich nie mehr verra&#x0364;th, als wenn man<lb/>
&#x017F;ie mit den Sprachen A&#x017F;iens vergleichet. Daher fallen die&#x017F;e<lb/>
auch, je a&#x0364;lter &#x017F;ie &#x017F;ind, dem Europa&#x0364;er zu lernen &#x017F;chwer: denn<lb/>
er muß den nutzlo&#x017F;en Reichthum &#x017F;einer Zunge aufgeben und<lb/>
kommt in ihnen wie zu einer fein-durchdachten, lei&#x017F;e-geregelten<lb/>
Hieroglyphik der un&#x017F;ichtbaren Gedanken&#x017F;prache.</p><lb/>
          <p>Das gewi&#x017F;&#x017F;e&#x017F;te Zeichen der Cultur einer Sprache i&#x017F;t ihre<lb/>
Schrift; je a&#x0364;lter, ku&#x0364;n&#x017F;tlicher, durchdachter die&#x017F;e war, de&#x017F;to mehr<lb/>
ward auch die Sprache gebildet. Nun kann, wenn man nicht<lb/>
etwa die Scythen ausna&#x0364;hme, die auch ein A&#x017F;iati&#x017F;ches Volk<lb/>
waren, keine Europa&#x0364;i&#x017F;che Nation &#x017F;ich eines &#x017F;elb&#x017F;terfundenen<lb/>
Alphabets ru&#x0364;hmen: &#x017F;ie &#x017F;tehen hierinn als Barbaren den Ne-<lb/>
gern und Amerikanern zur Seite. A&#x017F;ien allein hatte Schrift<lb/>
und zwar &#x017F;chon in den a&#x0364;lte&#x017F;ten Zeiten. Die er&#x017F;te gebildete<lb/>
Nation Europa's, die Griechen, bekamen ihr Alphabet von<lb/>
einem Morgenla&#x0364;nder und daß alle andre Buch&#x017F;tabencharaktere<lb/>
der Europa&#x0364;er abgeleitete oder verdorbne Zu&#x0364;ge der Griechen<lb/>
&#x017F;ind, zeigen die <hi rendition="#fr">Bu&#x0364;ttner&#x017F;chen</hi> Tafeln<note place="foot" n="a)">S. Vergleichungstafeln der Schriftarten ver&#x017F;chiedner Vo&#x0364;lker von<lb/><hi rendition="#fr">Bu&#x0364;ttner</hi> Go&#x0364;ttingen 1771.</note>. Auch der Aegypter<lb/>
a&#x0364;lte&#x017F;te Buch&#x017F;taben&#x017F;chrift auf ihren Mumien i&#x017F;t pho&#x0364;nici&#x017F;ch und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;o</fw><lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Jdeen,</hi><hi rendition="#aq">II.</hi><hi rendition="#fr">Th.</hi> P p</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[297/0309] Europaͤiſchen Sprachen mit ihren unnuͤtzen Huͤlfsworten und langweiligen Flexionen ſich nie mehr verraͤth, als wenn man ſie mit den Sprachen Aſiens vergleichet. Daher fallen dieſe auch, je aͤlter ſie ſind, dem Europaͤer zu lernen ſchwer: denn er muß den nutzloſen Reichthum ſeiner Zunge aufgeben und kommt in ihnen wie zu einer fein-durchdachten, leiſe-geregelten Hieroglyphik der unſichtbaren Gedankenſprache. Das gewiſſeſte Zeichen der Cultur einer Sprache iſt ihre Schrift; je aͤlter, kuͤnſtlicher, durchdachter dieſe war, deſto mehr ward auch die Sprache gebildet. Nun kann, wenn man nicht etwa die Scythen ausnaͤhme, die auch ein Aſiatiſches Volk waren, keine Europaͤiſche Nation ſich eines ſelbſterfundenen Alphabets ruͤhmen: ſie ſtehen hierinn als Barbaren den Ne- gern und Amerikanern zur Seite. Aſien allein hatte Schrift und zwar ſchon in den aͤlteſten Zeiten. Die erſte gebildete Nation Europa's, die Griechen, bekamen ihr Alphabet von einem Morgenlaͤnder und daß alle andre Buchſtabencharaktere der Europaͤer abgeleitete oder verdorbne Zuͤge der Griechen ſind, zeigen die Buͤttnerſchen Tafeln a). Auch der Aegypter aͤlteſte Buchſtabenſchrift auf ihren Mumien iſt phoͤniciſch und ſo a) S. Vergleichungstafeln der Schriftarten verſchiedner Voͤlker von Buͤttner Goͤttingen 1771. Jdeen, II. Th. P p

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/309
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/309>, abgerufen am 22.11.2024.