Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

der aufwachende Trieb seiner schönen Jugend und die süßesten
Namen der Menschheit Vater, Kind, Bruder, Schwester,
Geliebter, Freund, Versorger, sind Bande des Naturrechts,
die im Stande jeder ursprünglichen Menschengesellschaft statt
finden. Mit ihnen sind also auch die ersten Regierungen un-
ter den Menschen gegründet: Ordnungen der Familie, ohne
die unser Geschlecht nicht bestehen kann, Gesetze, die die
Natur gab und auch durch sich selbst gnugsam einschränkte.
Wir wollen sie den ersten Grad natürlicher Regierungen
nennen; sie werden immerhin auch der höchste und letzte bleiben.

Hier endigte nun die Natur ihre Grundlage der Gesell-
schaft und überließ es dem Verstande oder dem Bedürfniß
des Menschen, höhere Gebäude darauf zu gründen. Jn allen
Erdstrichen, wo einzelne Stämme und Geschlechter einander
weniger bedörfen, nehmen sie auch weniger Theil an einander;
sie dachten also an keine großen politischen Gebäude. Der-
gleichen sind die Küsten der Fischer, die Weiden der Hirten,
die Wälder der Jäger; wo auf ihnen das väterliche und häus-
liche Regiment aufhört, sind die weiteren Verbindungen der
Menschen meistens nur auf Vertrag oder Auftrag gegründet.
Eine Jagdnation z. B. geht auf die Jagd: bedarf sie eines
Führers, so ist es ein Jagdanführer, zu dem sie den geschickt-
sten wählet, dem sie also auch nur aus freier Wahl, und zum

gemein-

der aufwachende Trieb ſeiner ſchoͤnen Jugend und die ſuͤßeſten
Namen der Menſchheit Vater, Kind, Bruder, Schweſter,
Geliebter, Freund, Verſorger, ſind Bande des Naturrechts,
die im Stande jeder urſpruͤnglichen Menſchengeſellſchaft ſtatt
finden. Mit ihnen ſind alſo auch die erſten Regierungen un-
ter den Menſchen gegruͤndet: Ordnungen der Familie, ohne
die unſer Geſchlecht nicht beſtehen kann, Geſetze, die die
Natur gab und auch durch ſich ſelbſt gnugſam einſchraͤnkte.
Wir wollen ſie den erſten Grad natuͤrlicher Regierungen
nennen; ſie werden immerhin auch der hoͤchſte und letzte bleiben.

Hier endigte nun die Natur ihre Grundlage der Geſell-
ſchaft und uͤberließ es dem Verſtande oder dem Beduͤrfniß
des Menſchen, hoͤhere Gebaͤude darauf zu gruͤnden. Jn allen
Erdſtrichen, wo einzelne Staͤmme und Geſchlechter einander
weniger bedoͤrfen, nehmen ſie auch weniger Theil an einander;
ſie dachten alſo an keine großen politiſchen Gebaͤude. Der-
gleichen ſind die Kuͤſten der Fiſcher, die Weiden der Hirten,
die Waͤlder der Jaͤger; wo auf ihnen das vaͤterliche und haͤus-
liche Regiment aufhoͤrt, ſind die weiteren Verbindungen der
Menſchen meiſtens nur auf Vertrag oder Auftrag gegruͤndet.
Eine Jagdnation z. B. geht auf die Jagd: bedarf ſie eines
Fuͤhrers, ſo iſt es ein Jagdanfuͤhrer, zu dem ſie den geſchickt-
ſten waͤhlet, dem ſie alſo auch nur aus freier Wahl, und zum

gemein-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0262" n="250"/>
der aufwachende Trieb &#x017F;einer &#x017F;cho&#x0364;nen Jugend und die &#x017F;u&#x0364;ße&#x017F;ten<lb/>
Namen der Men&#x017F;chheit Vater, Kind, Bruder, Schwe&#x017F;ter,<lb/>
Geliebter, Freund, Ver&#x017F;orger, &#x017F;ind Bande des Naturrechts,<lb/>
die im Stande jeder ur&#x017F;pru&#x0364;nglichen Men&#x017F;chenge&#x017F;ell&#x017F;chaft &#x017F;tatt<lb/>
finden. Mit ihnen &#x017F;ind al&#x017F;o auch die er&#x017F;ten Regierungen un-<lb/>
ter den Men&#x017F;chen gegru&#x0364;ndet: Ordnungen der Familie, ohne<lb/>
die un&#x017F;er Ge&#x017F;chlecht nicht be&#x017F;tehen kann, Ge&#x017F;etze, die die<lb/>
Natur gab und auch durch &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t gnug&#x017F;am ein&#x017F;chra&#x0364;nkte.<lb/>
Wir wollen &#x017F;ie <hi rendition="#fr">den er&#x017F;ten Grad natu&#x0364;rlicher Regierungen</hi><lb/>
nennen; &#x017F;ie werden immerhin auch der ho&#x0364;ch&#x017F;te und letzte bleiben.</p><lb/>
          <p>Hier endigte nun die Natur ihre Grundlage der Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaft und u&#x0364;berließ es dem Ver&#x017F;tande oder dem Bedu&#x0364;rfniß<lb/>
des Men&#x017F;chen, ho&#x0364;here Geba&#x0364;ude darauf zu gru&#x0364;nden. Jn allen<lb/>
Erd&#x017F;trichen, wo einzelne Sta&#x0364;mme und Ge&#x017F;chlechter einander<lb/>
weniger bedo&#x0364;rfen, nehmen &#x017F;ie auch weniger Theil an einander;<lb/>
&#x017F;ie dachten al&#x017F;o an keine großen politi&#x017F;chen Geba&#x0364;ude. Der-<lb/>
gleichen &#x017F;ind die Ku&#x0364;&#x017F;ten der Fi&#x017F;cher, die Weiden der Hirten,<lb/>
die Wa&#x0364;lder der Ja&#x0364;ger; wo auf ihnen das va&#x0364;terliche und ha&#x0364;us-<lb/>
liche Regiment aufho&#x0364;rt, &#x017F;ind die weiteren Verbindungen der<lb/>
Men&#x017F;chen mei&#x017F;tens nur auf Vertrag oder Auftrag gegru&#x0364;ndet.<lb/>
Eine Jagdnation z. B. geht auf die Jagd: bedarf &#x017F;ie eines<lb/>
Fu&#x0364;hrers, &#x017F;o i&#x017F;t es ein Jagdanfu&#x0364;hrer, zu dem &#x017F;ie den ge&#x017F;chickt-<lb/>
&#x017F;ten wa&#x0364;hlet, dem &#x017F;ie al&#x017F;o auch nur aus freier Wahl, und zum<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gemein-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[250/0262] der aufwachende Trieb ſeiner ſchoͤnen Jugend und die ſuͤßeſten Namen der Menſchheit Vater, Kind, Bruder, Schweſter, Geliebter, Freund, Verſorger, ſind Bande des Naturrechts, die im Stande jeder urſpruͤnglichen Menſchengeſellſchaft ſtatt finden. Mit ihnen ſind alſo auch die erſten Regierungen un- ter den Menſchen gegruͤndet: Ordnungen der Familie, ohne die unſer Geſchlecht nicht beſtehen kann, Geſetze, die die Natur gab und auch durch ſich ſelbſt gnugſam einſchraͤnkte. Wir wollen ſie den erſten Grad natuͤrlicher Regierungen nennen; ſie werden immerhin auch der hoͤchſte und letzte bleiben. Hier endigte nun die Natur ihre Grundlage der Geſell- ſchaft und uͤberließ es dem Verſtande oder dem Beduͤrfniß des Menſchen, hoͤhere Gebaͤude darauf zu gruͤnden. Jn allen Erdſtrichen, wo einzelne Staͤmme und Geſchlechter einander weniger bedoͤrfen, nehmen ſie auch weniger Theil an einander; ſie dachten alſo an keine großen politiſchen Gebaͤude. Der- gleichen ſind die Kuͤſten der Fiſcher, die Weiden der Hirten, die Waͤlder der Jaͤger; wo auf ihnen das vaͤterliche und haͤus- liche Regiment aufhoͤrt, ſind die weiteren Verbindungen der Menſchen meiſtens nur auf Vertrag oder Auftrag gegruͤndet. Eine Jagdnation z. B. geht auf die Jagd: bedarf ſie eines Fuͤhrers, ſo iſt es ein Jagdanfuͤhrer, zu dem ſie den geſchickt- ſten waͤhlet, dem ſie alſo auch nur aus freier Wahl, und zum gemein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/262
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/262>, abgerufen am 24.11.2024.