haben. Unsre arme Vernunft ist also nur eine bezeichnende Rechnerin, wie auch in mehreren Sprachen ihr Name saget.
2. Und womit rechnet sie? Etwa mit den Merkmalen selbst, die sie abzog, so unvollkommen und unwesenhaft diese auch seyn mögen? Nichts minder! Diese Merkmale wer- den abermals in willkührliche, ihnen ganz unwesenhaf- te Laute verfaßt, mit denen die Seele denket. Sie rech- net also mit Rechenpfennigen, mit Schällen und Ziffern: denn daß ein wesentlicher Zusammenhang zwischen der Spra- che und den Gedanken, geschweige der Sache selbst sei, wird niemand glauben, der nur zwo Sprachen auf der Erde kennet. Und wie viel mehr als zwo sind ihrer auf der Erde! in denen allen doch die Vernunft rechnet und sich mit dem Schattenspiel einer willkührlichen Zusammenordnung begnüget. Warum dies? weil sie selbst nur unwesentliche Merkmale besitzt und es am Ende ihr gleichgültig ist, mit diesen oder jenen Ziffern zu bezeichnen. Trüber Blick auf die Geschichte des Menschen- geschlechtes! Jrrthümer und Meinungen sind unsrer Natur also unvermeidlich, nicht etwa nur aus Fehlern des Beobach- ters sondern der Genesis selbst nach, wie wir zu Begriffen kommen und diese durch Vernunft und Sprache fortpflanzen. Dächten wir Sachen statt abgezogner Merkmale und sprächen die Natur der Dinge aus, statt willkührlicher Zeichen: so lebe
wohl,
haben. Unſre arme Vernunft iſt alſo nur eine bezeichnende Rechnerin, wie auch in mehreren Sprachen ihr Name ſaget.
2. Und womit rechnet ſie? Etwa mit den Merkmalen ſelbſt, die ſie abzog, ſo unvollkommen und unweſenhaft dieſe auch ſeyn moͤgen? Nichts minder! Dieſe Merkmale wer- den abermals in willkuͤhrliche, ihnen ganz unweſenhaf- te Laute verfaßt, mit denen die Seele denket. Sie rech- net alſo mit Rechenpfennigen, mit Schaͤllen und Ziffern: denn daß ein weſentlicher Zuſammenhang zwiſchen der Spra- che und den Gedanken, geſchweige der Sache ſelbſt ſei, wird niemand glauben, der nur zwo Sprachen auf der Erde kennet. Und wie viel mehr als zwo ſind ihrer auf der Erde! in denen allen doch die Vernunft rechnet und ſich mit dem Schattenſpiel einer willkuͤhrlichen Zuſammenordnung begnuͤget. Warum dies? weil ſie ſelbſt nur unweſentliche Merkmale beſitzt und es am Ende ihr gleichguͤltig iſt, mit dieſen oder jenen Ziffern zu bezeichnen. Truͤber Blick auf die Geſchichte des Menſchen- geſchlechtes! Jrrthuͤmer und Meinungen ſind unſrer Natur alſo unvermeidlich, nicht etwa nur aus Fehlern des Beobach- ters ſondern der Geneſis ſelbſt nach, wie wir zu Begriffen kommen und dieſe durch Vernunft und Sprache fortpflanzen. Daͤchten wir Sachen ſtatt abgezogner Merkmale und ſpraͤchen die Natur der Dinge aus, ſtatt willkuͤhrlicher Zeichen: ſo lebe
wohl,
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haben. Unſre arme Vernunft iſt alſo nur eine bezeichnende
Rechnerin, wie auch in mehreren Sprachen ihr Name ſaget.
2. Und womit rechnet ſie? Etwa mit den Merkmalen
ſelbſt, die ſie abzog, ſo unvollkommen und unweſenhaft dieſe
auch ſeyn moͤgen? Nichts minder! Dieſe Merkmale wer-
den abermals in willkuͤhrliche, ihnen ganz unweſenhaf-
te Laute verfaßt, mit denen die Seele denket. Sie rech-
net alſo mit Rechenpfennigen, mit Schaͤllen und Ziffern:
denn daß ein weſentlicher Zuſammenhang zwiſchen der Spra-
che und den Gedanken, geſchweige der Sache ſelbſt ſei, wird
niemand glauben, der nur zwo Sprachen auf der Erde kennet.
Und wie viel mehr als zwo ſind ihrer auf der Erde! in denen
allen doch die Vernunft rechnet und ſich mit dem Schattenſpiel
einer willkuͤhrlichen Zuſammenordnung begnuͤget. Warum
dies? weil ſie ſelbſt nur unweſentliche Merkmale beſitzt und
es am Ende ihr gleichguͤltig iſt, mit dieſen oder jenen Ziffern
zu bezeichnen. Truͤber Blick auf die Geſchichte des Menſchen-
geſchlechtes! Jrrthuͤmer und Meinungen ſind unſrer Natur
alſo unvermeidlich, nicht etwa nur aus Fehlern des Beobach-
ters ſondern der Geneſis ſelbſt nach, wie wir zu Begriffen
kommen und dieſe durch Vernunft und Sprache fortpflanzen.
Daͤchten wir Sachen ſtatt abgezogner Merkmale und ſpraͤchen
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/242>, abgerufen am 25.11.2024.
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