nen sollen, diese Bestimmung auch als Lehrer unsres Geschlechts gemacht habe? Wird, wer ein Schiff betrachtet, eine Absicht des Werkmeisters in ihm läugnen? und wer das künstliche Gebilde unsrer Natur mit jedem Klima der bewohnbaren Erde vergleicht, wird er dem Gedanken entfliehen können, daß nicht auch in Absicht der geistigen Erziehung die klimatische Diver- sität der vielartigen Menschen ein Zweck der Erdeschöpfung gewesen? Da aber der Wohnplatz allein noch nicht Alles aus- macht, indem lebendige, uns ähnliche Wesen dazu gehören, uns zu unterrichten, zu gewöhnen, zu bilden; mich dünkt, so giebt es eine Erziehung des Menschengeschlechts und eine Phi- losophie seiner Geschichte so gewiß, so wahr es eine Mensch- heit d. i. eine Zusammenwirkung der Jndividuen giebt, die uns allein zu Menschen machte.
Sofort werden uns auch die Principien dieser Philoso- phie offenbar, einfach und unverkennbar, wie es die Naturge- schichte des Menschen selbst ist; sie heißen Tradition und or- ganische Kräfte. Alle Erziehung kann nur durch Nachah- mung und Uebung, also durch Uebergang des Vorbildes ins Nachbild werden; und wie könnten wir dies besser als Ueber- lieferung nennen? der Nachahmende aber muß Kräfte haben, das Mitgetheilte und Mittheilbare aufzunehmen und es, wie die Speise, durch die er lebt, in seine Natur zu verwandeln. Von wem er also? was und wie viel er aufnehme? wie ers
sich
nen ſollen, dieſe Beſtimmung auch als Lehrer unſres Geſchlechts gemacht habe? Wird, wer ein Schiff betrachtet, eine Abſicht des Werkmeiſters in ihm laͤugnen? und wer das kuͤnſtliche Gebilde unſrer Natur mit jedem Klima der bewohnbaren Erde vergleicht, wird er dem Gedanken entfliehen koͤnnen, daß nicht auch in Abſicht der geiſtigen Erziehung die klimatiſche Diver- ſitaͤt der vielartigen Menſchen ein Zweck der Erdeſchoͤpfung geweſen? Da aber der Wohnplatz allein noch nicht Alles aus- macht, indem lebendige, uns aͤhnliche Weſen dazu gehoͤren, uns zu unterrichten, zu gewoͤhnen, zu bilden; mich duͤnkt, ſo giebt es eine Erziehung des Menſchengeſchlechts und eine Phi- loſophie ſeiner Geſchichte ſo gewiß, ſo wahr es eine Menſch- heit d. i. eine Zuſammenwirkung der Jndividuen giebt, die uns allein zu Menſchen machte.
Sofort werden uns auch die Principien dieſer Philoſo- phie offenbar, einfach und unverkennbar, wie es die Naturge- ſchichte des Menſchen ſelbſt iſt; ſie heißen Tradition und or- ganiſche Kraͤfte. Alle Erziehung kann nur durch Nachah- mung und Uebung, alſo durch Uebergang des Vorbildes ins Nachbild werden; und wie koͤnnten wir dies beſſer als Ueber- lieferung nennen? der Nachahmende aber muß Kraͤfte haben, das Mitgetheilte und Mittheilbare aufzunehmen und es, wie die Speiſe, durch die er lebt, in ſeine Natur zu verwandeln. Von wem er alſo? was und wie viel er aufnehme? wie ers
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nen ſollen, dieſe Beſtimmung auch als Lehrer unſres Geſchlechts
gemacht habe? Wird, wer ein Schiff betrachtet, eine Abſicht
des Werkmeiſters in ihm laͤugnen? und wer das kuͤnſtliche
Gebilde unſrer Natur mit jedem Klima der bewohnbaren Erde
vergleicht, wird er dem Gedanken entfliehen koͤnnen, daß nicht
auch in Abſicht der geiſtigen Erziehung die klimatiſche Diver-
ſitaͤt der vielartigen Menſchen ein Zweck der Erdeſchoͤpfung
geweſen? Da aber der Wohnplatz allein noch nicht Alles aus-
macht, indem lebendige, uns aͤhnliche Weſen dazu gehoͤren,
uns zu unterrichten, zu gewoͤhnen, zu bilden; mich duͤnkt, ſo
giebt es eine Erziehung des Menſchengeſchlechts und eine Phi-
loſophie ſeiner Geſchichte ſo gewiß, ſo wahr es eine Menſch-
heit d. i. eine Zuſammenwirkung der Jndividuen giebt, die
uns allein zu Menſchen machte.
Sofort werden uns auch die Principien dieſer Philoſo-
phie offenbar, einfach und unverkennbar, wie es die Naturge-
ſchichte des Menſchen ſelbſt iſt; ſie heißen Tradition und or-
ganiſche Kraͤfte. Alle Erziehung kann nur durch Nachah-
mung und Uebung, alſo durch Uebergang des Vorbildes ins
Nachbild werden; und wie koͤnnten wir dies beſſer als Ueber-
lieferung nennen? der Nachahmende aber muß Kraͤfte haben,
das Mitgetheilte und Mittheilbare aufzunehmen und es, wie
die Speiſe, durch die er lebt, in ſeine Natur zu verwandeln.
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/226>, abgerufen am 27.11.2024.
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