Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

und keine neuen Eindrücke mehr annimmt. So sind die Glie-
der, so die Triebe des Kindes; jene sind zart und zur Nach-
ahmung eingerichtet: diese nehmen, was sie sehen und hören
mit wunderbar-reger Aufmerksamkeit und innerer Lebenskraft
auf. Der Mensch ist also eine künstliche Maschiene, zwar
mit genetischer Disposition und einer Fülle von Leben begabt;
aber die Maschiene spielet sich nicht selbst und auch der fähig-
ste Mensch muß lernen, wie er sie spiele. Die Vernunft ist
ein Aggregat von Bemerkungen und Uebungen unsrer Seele;
eine Summe der Erziehung unsres Geschlechts, die, nach ge-
gebnen fremden Vorbildern, der Erzogne zuletzt als ein frem-
der Künstler an sich vollendet.

Hier also liegt das Principium zur Geschichte der Mensch-
heit, ohne welches es keine solche Geschichte gäbe. Empfinge
der Mensch alles aus sich und entwickelte es abgetrennt von
äußern Gegenständen: so wäre zwar eine Geschichte des Men-
schen, aber nicht der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts
möglich. Da nun aber unser specifische Charakter eben darinn
liegt, daß wir, beinah ohne Jnstinkt gebohren, nur durch eine
Lebenslange Uebung zur Menschheit gebildet werden, und so-
wohl die Perfectibilität als die Corruptibilität unsres Geschlechts
hierauf beruhet: so wird eben damit auch die Geschichte der
Menschheit nothwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Ge-

sellig-
D d 2

und keine neuen Eindruͤcke mehr annimmt. So ſind die Glie-
der, ſo die Triebe des Kindes; jene ſind zart und zur Nach-
ahmung eingerichtet: dieſe nehmen, was ſie ſehen und hoͤren
mit wunderbar-reger Aufmerkſamkeit und innerer Lebenskraft
auf. Der Menſch iſt alſo eine kuͤnſtliche Maſchiene, zwar
mit genetiſcher Diſpoſition und einer Fuͤlle von Leben begabt;
aber die Maſchiene ſpielet ſich nicht ſelbſt und auch der faͤhig-
ſte Menſch muß lernen, wie er ſie ſpiele. Die Vernunft iſt
ein Aggregat von Bemerkungen und Uebungen unſrer Seele;
eine Summe der Erziehung unſres Geſchlechts, die, nach ge-
gebnen fremden Vorbildern, der Erzogne zuletzt als ein frem-
der Kuͤnſtler an ſich vollendet.

Hier alſo liegt das Principium zur Geſchichte der Menſch-
heit, ohne welches es keine ſolche Geſchichte gaͤbe. Empfinge
der Menſch alles aus ſich und entwickelte es abgetrennt von
aͤußern Gegenſtaͤnden: ſo waͤre zwar eine Geſchichte des Men-
ſchen, aber nicht der Menſchen, nicht ihres ganzen Geſchlechts
moͤglich. Da nun aber unſer ſpecifiſche Charakter eben darinn
liegt, daß wir, beinah ohne Jnſtinkt gebohren, nur durch eine
Lebenslange Uebung zur Menſchheit gebildet werden, und ſo-
wohl die Perfectibilitaͤt als die Corruptibilitaͤt unſres Geſchlechts
hierauf beruhet: ſo wird eben damit auch die Geſchichte der
Menſchheit nothwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Ge-

ſellig-
D d 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0223" n="211"/>
und keine neuen Eindru&#x0364;cke mehr annimmt. So &#x017F;ind die Glie-<lb/>
der, &#x017F;o die Triebe des Kindes; jene &#x017F;ind zart und zur Nach-<lb/>
ahmung eingerichtet: die&#x017F;e nehmen, was &#x017F;ie &#x017F;ehen und ho&#x0364;ren<lb/>
mit wunderbar-reger Aufmerk&#x017F;amkeit und innerer Lebenskraft<lb/>
auf. Der Men&#x017F;ch i&#x017F;t al&#x017F;o eine ku&#x0364;n&#x017F;tliche Ma&#x017F;chiene, zwar<lb/>
mit geneti&#x017F;cher Di&#x017F;po&#x017F;ition und einer Fu&#x0364;lle von Leben begabt;<lb/>
aber die Ma&#x017F;chiene &#x017F;pielet &#x017F;ich nicht &#x017F;elb&#x017F;t und auch der fa&#x0364;hig-<lb/>
&#x017F;te Men&#x017F;ch muß lernen, wie er &#x017F;ie &#x017F;piele. Die Vernunft i&#x017F;t<lb/>
ein Aggregat von Bemerkungen und Uebungen un&#x017F;rer Seele;<lb/>
eine Summe der Erziehung un&#x017F;res Ge&#x017F;chlechts, die, nach ge-<lb/>
gebnen fremden Vorbildern, der Erzogne zuletzt als ein frem-<lb/>
der Ku&#x0364;n&#x017F;tler an &#x017F;ich vollendet.</p><lb/>
          <p>Hier al&#x017F;o liegt das Principium zur Ge&#x017F;chichte der Men&#x017F;ch-<lb/>
heit, ohne welches es keine &#x017F;olche Ge&#x017F;chichte ga&#x0364;be. Empfinge<lb/>
der Men&#x017F;ch alles aus &#x017F;ich und entwickelte es abgetrennt von<lb/>
a&#x0364;ußern Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden: &#x017F;o wa&#x0364;re zwar eine Ge&#x017F;chichte <hi rendition="#fr">des</hi> Men-<lb/>
&#x017F;chen, aber nicht <hi rendition="#fr">der</hi> Men&#x017F;chen, nicht ihres ganzen Ge&#x017F;chlechts<lb/>
mo&#x0364;glich. Da nun aber un&#x017F;er &#x017F;pecifi&#x017F;che Charakter eben darinn<lb/>
liegt, daß wir, beinah ohne Jn&#x017F;tinkt gebohren, nur durch eine<lb/>
Lebenslange Uebung zur Men&#x017F;chheit gebildet werden, und &#x017F;o-<lb/>
wohl die Perfectibilita&#x0364;t als die Corruptibilita&#x0364;t un&#x017F;res Ge&#x017F;chlechts<lb/>
hierauf beruhet: &#x017F;o wird eben damit auch die Ge&#x017F;chichte der<lb/>
Men&#x017F;chheit nothwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D d 2</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ellig-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[211/0223] und keine neuen Eindruͤcke mehr annimmt. So ſind die Glie- der, ſo die Triebe des Kindes; jene ſind zart und zur Nach- ahmung eingerichtet: dieſe nehmen, was ſie ſehen und hoͤren mit wunderbar-reger Aufmerkſamkeit und innerer Lebenskraft auf. Der Menſch iſt alſo eine kuͤnſtliche Maſchiene, zwar mit genetiſcher Diſpoſition und einer Fuͤlle von Leben begabt; aber die Maſchiene ſpielet ſich nicht ſelbſt und auch der faͤhig- ſte Menſch muß lernen, wie er ſie ſpiele. Die Vernunft iſt ein Aggregat von Bemerkungen und Uebungen unſrer Seele; eine Summe der Erziehung unſres Geſchlechts, die, nach ge- gebnen fremden Vorbildern, der Erzogne zuletzt als ein frem- der Kuͤnſtler an ſich vollendet. Hier alſo liegt das Principium zur Geſchichte der Menſch- heit, ohne welches es keine ſolche Geſchichte gaͤbe. Empfinge der Menſch alles aus ſich und entwickelte es abgetrennt von aͤußern Gegenſtaͤnden: ſo waͤre zwar eine Geſchichte des Men- ſchen, aber nicht der Menſchen, nicht ihres ganzen Geſchlechts moͤglich. Da nun aber unſer ſpecifiſche Charakter eben darinn liegt, daß wir, beinah ohne Jnſtinkt gebohren, nur durch eine Lebenslange Uebung zur Menſchheit gebildet werden, und ſo- wohl die Perfectibilitaͤt als die Corruptibilitaͤt unſres Geſchlechts hierauf beruhet: ſo wird eben damit auch die Geſchichte der Menſchheit nothwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Ge- ſellig- D d 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/223
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/223>, abgerufen am 27.11.2024.